An
Enya scheiden sich die Geister. Den einen gilt ihre Musik als Traum,
den anderen als Albtraum. Unter den Pop-Artisten ist sie ist das Weichspülmittel,
sanft umgarnt sie ihr Publikum mit wohlig-warmen Klangfarben und lullt
es mit betörend melodiösen Düften ein.
Die Stimme, gleichsam aus Samt und Seide, begleitet von atmosphärischen
Klängen aus Ambient, Pop und irischer Gesangstradition, entführt
seit 1988 ein beständig wachsendes Publikum aus der Jetzt-Zeit
in ein phantastisches Reich aus Pastellfarbe. Für die einen ist
Enya der Gipfel des Kitsch, für die anderen das Versprechen auf
Stille und Entspannung - Chillout jenseits des Alltäglichen, Pop
für Harmoniesüchtige. Die Zwischenbilanz: 60 Millionen verkaufte
Tonträger weltweit, mehr als jede andere irische Künstlerin.
Ein nicht autorisierter Remix ergab es, dass die US-Amerikaner in ihrer
Ballade "Only time" nach den Attentaten des 11. September
2001 den passenden Ausdruck für Trost und Trauer sahen. Damit bescherten
sie Enya einen unerwarteten und sehr ambivalenten Erfolg: "Only
time" avancierte gewissermaßen zum 'Lied zur Katastrophe';
einerseits eine Ehre für die irische Künstlerin, deren Musik
vielen Menschen im Moment der kollektiven Trauer offenbar aus der Seele
sprach, andererseits der Umstand, dass sie vom eigenen Erfolg vor dem
Hintergrund der Katastrophe nicht wirklich profitieren mochte. Die Einnahmen
spendete sie folgerichtig den Angehörigen der Terror-Opfer.
Gelegentlich betonen Kritiker, dass Enyas Musik als Konfliktbewältigung
eigentlich völlig ungeeignet sei, da sie dabei helfe, die alltäglichen
Sorgen und großen Probleme zu verdrängen, anstatt sich ihnen
zu stellen. Damit stehe sie in der gleichen Ecke wie z.B. der Schlager.
Wirklich widersprechen mag man diesen Stimmen nicht, andererseits könnte
man fragen, ob ihre Platten deshalb etwa weniger legitim sind als andere
Formen der Popmusik, so wenig legitim gar, dass sie etwa im renommierten
"Pop-Lexikon" mit keiner einzigen Silbe erwähnt wird.
Der
große Publikumserfolg für ihre leisen und harmonischen
Klänge prädestiniert Enya natürlich geradezu für
Veröffentlichungen in der Weihnachtszeit. Vier CDs umfasst die
Compilation, die ihre Plattenfirma im Dezember 2002 veröffentlichte,
verdächtig umfangreich für eine Künstlerin, die bislang
überhaupt nur fünf Studioalben veröffentlicht hat.
Eingehüllt in violetten Samt präsentiert Enya darauf fünfzig
Lieder ihrer bisherigen Karriere, darunter ihr komplettes Debüt-Album
"Watermark", mit dem sie 1988 auf einen Schlag berühmt
wurde, zumal einige Stücke daraus in zwei Hollywood-Produktionen
verwendet wurden ("Green Card" und "L.A. Story").
"Only time" ist bereits die zweite CD-Box, die von Enya
veröffentlicht wird. 1997, wohl nicht ganz zufällig ebenfalls
Anfang Dezember, erschien nämlich bereits das 3-CD-Set "A
box of dreams", begleitet von einer "einfachen" Best-of-Variante
("Paint the sky with stars").
Da
Enya zwischen den beiden Box-Sets - abgesehen von zwei Titeln für
den Soundtrack zum Film "Herr der Ringe" - lediglich ein
Studioalbum mit neuen Titeln einspielte ("A day without rain"),
drängt sich die Frage nach der übermäßigen Vermarktung
der Künstlerin geradezu auf, zumal "Only time" kaum
nennenswertes neues Material enthält.
So
gerät Enya mehr und mehr in Widerspruch zur selbst postulierten
Aussage ihrer Musik. Die Sehnsucht nach Stille und Frieden, überhaupt
nach authentischer Emotionalität, die in ihrer Musik zum Ausdruck
kommen soll, verträgt sich nämlich nur schlecht mit der
kommerziellen Ausschlachtung ihrer ansonsten mit Bedacht veröffentlichten
Produktionen:
Ihren
inzwischen sechs Studioalben* stehen drei Compilations mit insgesamt
acht (!) CDs gegenüber, die Enya vorzugsweise in der Vorweihnachtszeit
veröffentlichte. Im Spannungsverhältnis ihres Werks zwischen
Harmonie, Kitsch und Kommerz scheint Letzterer die Oberhand zu gewinnen.
©
Michael Frost, 16.12.2002
Update: Dezember 2005