"Ai tristeza", seufzt Deolinda in schönster Fado-Saudade, allerdings nur, um gleich darauf das Tempo ihres Rhythmus' deutlich zu beschleunigen, als wollte sie nicht nur die typische Wehmut der Fado-Interpretin verjagen, sondern gleich die gesamte Gralshüterschaft des Genres: "Fado korrumpiert die Seele mit Dämonen ... es ist ein Nest der Konservativen, das sie hegen und aus dem nur sie Vorteile ziehen" - Deolinda, so merkt man, nimmt kein Blatt vor den Mund. Und auch wenn sie schließlich konstatiert, dass Fado an sich nicht schlecht sei ("O fado não e mau"), so hat sie doch anderes im Sinn.
Die eigenwillige Portugiesin, die dem Vernehmen nach in einem Randbezirk Lissabons in einer kleinen Wohnung lebt, die sie mit zwei Katzen und einem Goldfisch teilt, belässt es nicht dabei, bloß den Fado vom Sockel zu stoßen. In ihrem plüschigen Appartment, umgeben von Häkeldeckchen, bunten Teppichen und samtroten Vorhängen, Fotos offenbar längst verblichener Angehöriger, Strickzeug, einem Grammophon und einer Schallplattensammlung von Glenn Gould bis zur unvermeidlichen Amália Rodrigues, kann man sie am Fenster stehen sehen, wo sie die Straße und gegenüberliegende Wohnungen betrachtet.
Wohl bei solchen Gelegenheiten kommen ihr Texte wie "Movimento perpétuo associativo" in den Sinn: In dem Lied, das sie mit kämpferischer Inbrunst intoniert, als wollte sie eine zweite Nelkenrevolution ausrufen, spottet sie herzhaft über die träge gewordenen Politaktivisten und ihre Neigung, die Rettung der Welt zugunsten eines Abendessens, eines Fußballspiels oder des regnerischen Wetters wegen auf einen anderen Tag zu verschieben.
Nun verlässt Deolinda ihrerseits das Haus allerdings wohl auch nicht allzu häufig und beschränkt sich daher auf das Beobachten. Müde Revolutionäre, eine blonde Brasilianerin, die in einem Fado-Café bedient, Arbeiter und Priester, selbst ein Tuba-Spieler flaniert vor ihrem Fenster auf und ab, und für jeden hat sie ein Lied: "Sieh, da kommt die Blaskapelle, sie spielt in meiner Straße, da kommt mein Liebster, er bläst die Tuba ..." ("Fon-Fon-Fon").
Wie nun all diese Personen auf das gemeinsame Bild in Deolindas Album-Booklet geraten sind (das übrigens ebenso liebevoll gestaltet ist wie ihre Musik), bleibt zunächst ebenso rätselhaft wie die Entstehung der Aufnahme. Die Portugiesen waren ob der charmanten Entdeckung, die ihre Geschichten in eine euphorische Mischung aus alentejanischer Folklore, Lissabonner Fado und brasilianische Bossanova und Samba kleidete, jedenfalls hingerissen, bescherten "Canção ao lado" (Lieder von nebenan) Platinstatus -
- und erfuhren bei der Gelegenheit, dass Deolinda gar nicht existiert. Sie ist lediglich eine - allerdings sehr überzeugende - Erfindung des Komponisten und Texters Pedro da Silva Martins. Er entwickelte den Zyklus um die fiktive "Deolinda" und schuf sich damit eine Möglichkeit, sich an Themen zu vergehen, die in Portugal als sakrosankt gelten - wie die eingangs zitierten Zeilen über den Fado, oder, noch schlimmer, die Beleidigung der Hauptstadt: "Lisboa não é a cidade perfeita" (Lissabon ist keine perfekte Stadt).
Doch in Wahrheit erwiesen sich die Portugiesen als deutlich humorvoller als erwartet - und so brachte Deolinda es schließlich auf Albumlänge. Zur Band gehören neben da Silva Martins noch der Saitenvirtuose Luís José Martins, Kontrabassist Zé Pedro Leitão - und eine Sängerin, die in vielen Passagen an die ehemalige Sängerin von Madredeus, Portugals international berühmtestem Ensemble, erinnert. Ihr Name ist vielleicht der Beginn einer weiteren Legende: Ana Bacalhau heißt sie nämlich, "bacalhau" wie Portugals Nationalgericht: getrockneter Stockfisch.
Wer weiß. Vielleicht lautet Ana Bacalhaus richtiger Name doch Deolinda, und vielleicht steht sie wirklich an ihrem Fenster und beobachtet die Passanten, und wenn man an ihr vorüber geht, wird man vielleicht selbst einmal Bestandteil ihrer Geschichten. Eine schöne Idee, eine originelle Umsetzung, ein herzerfrischendes Debüt.