Mit
dem Wort "extraordinaire" werden in der französischen
Sprache herausragende, besondere Leistungen und Wirkungen beschrieben.
"Außergewöhnlich", so die direkte Übersetzung
dieses Attributs, trifft auf die Sängerin Camille in jedem Fall
und in jeder Hinsicht zu. Schon die Wandlungsfähigkeit der Pariserin
ist extraordinaire: Wohl kaum jemand würde aufgrund ihres
aktuelles Albums "Le fil" Rückschlüsse auf ihren
großen Vorjahreserfolg ziehen, den sie als Sängerin des Projekts
"Nouvelle Vague" feierte.
"Nouvelle
vague" war der extraordinaire Versuch, Klassiker der New
Wave-Ära (u.a. Depeche Mode, The Cure, The Clash) in brasilianischen
Bossanova-Sound zu verpacken. Camille lieh den Songs (u.a. "this
is not a love song") ihre helle, leichte Stimme. Astrud Gilberto,
wäre sie Französin, hätte vermutlich ebenso geklungen.
Und vielleicht würde Björks jüngstes Album "Médulla"
klingen wie Camille auf "le fil", wäre sie Französin.
Denn
"Le fil" ist, wenn auch nicht in der dogmatischen Radikalität
von "Médulla", ein Vokalalbum, bei dem Camille gleich
mehrere Rollen übernahm: Vocals, Chor und human beatbox, daneben
noch einige Instrumente (Percussions, Wurlitzer, Klavier), doch letztere
gehen angesichts der Vokalakrobatik Camilles fast unter. Sie legt
verschiedene Gesangsspuren übereinander, spinnt Stimmen wie Fäden
auf unterschiedlichen Ebenen, bis daraus ein Netz wird, und trotz
des reduzierten Einsatzes additiver Instrumente entsteht eine ungewöhnliche,
sagen wir ruhig: extraordinaire Spannung, die sich wie das digitale
Summen im Hintergrund durch das gesamte Album zieht.
Fünfzehn
Titel gehen übergangslos ineinander über, geschrieben, arrangiert
und produziert von Camille selbst, unterstützt von dem englischen
Produzenten MaJiKer. Ihr gemeinsam entwickelter Sound bewahrt ständig
die Balance zwischen Rhythmus und Experimentalmusik, und bei allem
künstlerischen Anspruch bleibt "le fil" immer eingängig,
harmonisch und chansonesque, mit Anleihen aus R&B, Chorgesang
und Folk.
"Le
fil" ist ein außergewöhnlich (sic!) komplexes Album,
das sowohl große Erfahrung als auch eine fundierte Ausbildung
voraussetzt - Camille verfügt trotz ihrer Jugend (sie ist erst
26) über beides. So absolvierte sie bereits während des
Studiums (Literatur und Politikwissenschaft) Gesangsworkshops. Mit
ihrem ersten Album "Le sac des filles" erntete sie mehr
als nur einen Achtungserfolg. Kein Geringerer als Stéphane
Sednaoui produzierte den Videoclip ihrer Single "Paris".
Bühnenerfahrung sammelte sie im Vorprogramm von Chanson-Legenden
wie Maxime le Forestier und Alain Souchon, später arbeitete sie
mit Jean-Louis Murat und komponierte für Lokua Kanza.
Heute
steht sie selbst im Mittelpunkt. "Le fil" wurde in Frankreich
bereits mit Gold dekoriert, obwohl das Album nach gängigen Kriterien
sicherlich kaum als marktkompatibel gelten kann. Doch Camille gelingt
ein akrobatischer Seiltanz zwischen Massengeschmack und Avantgarde,
weder überfordert sie einen Teil ihres Publikums noch langweilt
sie den anderen.
Schon
jetzt kann man sie getrost als innovativste Musikerin der jungen französischen
Szene bezeichnen, deren Projekte wohl auch künftig vor allem
eine Zuschreibung erhalten werden: extraordinaire.
©
Michael Frost, 27.08.2005