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Das fünfte Element


Er liebt das Unerwartete, bleibt deshalb auch nach dreißigjähriger Karriere unberechenbar - und ein Garant für ungewöhnliche Musik. David Byrne suchte bereits in den 70er Jahren mit den Talking Heads nach der Formel für die perfekte Popmusik und kam diesem Ziel vermutlich näher als ihm damals klar war. Doch Byrne ist sowieso kein Musiker, der sich nach getaner Arbeit zurücklehnen würde: Rast- und ruhelos sucht er nach Möglichkeiten der Erweiterung seiner kreativen Möglichkeiten, gleichsam nach dem fünften Element.

Geboren wurde er 1952 in Schottland, aber seine Eltern wanderten schon zwei Jahre später nach Kanada aus. Später zog die Familie in die USA um. An der Rhode Island School of Design, wo er sich 1970 einschrieb, lernte er Chris Frantz und Tina Weymouth kennen, mit denen er fünf Jahre später die Talking Heads gründen sollte.

Nachdem er wegen eines respektlosen und von den Professoren unverstandenen Happenings von der Schule geworfen worden war, reiste er zunächst durch die USA, bis er in Baltimore Marc Kehoe kennen lernte, mit dem er das Duo "Bizadi" gründete. Gemeinsam spielten sie fast ein Jahr, bis sich Marc entschloss, Filmemacher zu werden. David kehrte zu Chris und Tina nach Rhode Island zurück und gründete bald darauf in New York endlich die Talking Heads, die Band, mit der weltberühmt wurde.

Seit der Auflösung der Band, deren größte Hits ("Psycho killer", "Burning down the house", "Road to nowhere") aus seiner Feder stammen, widmet sich David Byrne verstärkt musikalischen Experimenten. Der Erfolg, der ihm, etwas mäßiger, aber durchaus auch solo erhalten blieb, wurde mehr und mehr Nebensache. Mit seiner 1988 gegründeten Plattenfirma "Luaka Bop" fördert er talentierte Musiker aus Lateinamerika, so z.B. den Kubaner Silvio Rodriguez. Das Album wurde zur ersten Veröffentlichung kubanischer Musik in den USA seit Verhängung des Wirtschaftsembargos gegen Fidel Castro 1961.

Byrne benutzt die Musik anderer Kulturen nicht, um sie sich einzuverleiben, sondern er geht vielmehr in ihr auf und wird ein Teil von ihr. Sein grandioses Solo-Debüt "Rei Momo" (1989) ist ein Feuerwerk südamerikanischer Rhythmen, in deren Gesetzmäßigkeiten er sich fast mit wissenschaftlicher Detailliebe gestürzt hatte. Kein Südamerikaner würde annehmen, dass die Lieder von einem Nordamerikaner geschrieben worden sein könnten, und dann noch von einem, dessen familiäre Wurzeln in Schottland und Kanada und nicht etwa in den Latino-Vierteln US-amerikanischer Metropolen liegen. Dieses Ringen um Authentizität und Perfektion hat ihn international zum Ausnahmekünstler werden lassen.

Keines seiner Alben klingt wie das darauf folgende. Für Robert Wilsons Theaterproduktion schrieb Byrne "The forest", und für die Filmusik zu Bernardo Bertoluccis China-Epos "Der letzte Kaiser" (The last emperor) erhielt er sogar einen Oscar.

David Byrne ist in allen möglichen Genres gleichermaßen zu Hause. Dabei weiß er sehr wohl zwischen seinen eigenen Produktionen und der Unterstützung anderer Künstler zu differenzieren: Nie drängt er sich auf, lässt seinen Begleitern immer genügend Raum, ist immer und überall bereit dazu zu lernen und seinen eigenen musikalischen Hintergrund zu erweitern.

Und genau um diesen Hintergrund dreht sich auch sein aktuelles Album"Grown backwards". Wie der Titel bereits erahnen lässt, geht es ihm nicht mehr so sehr um die Suche nach der Zukunftsmusik, sondern um die Entdeckung der Vergangenheit. Und die findet Byrne nicht nur in den Pop- und Latinsongs von einst, sondern nochmals deutlich früher in den Arien von Georges Bizet ("Au fond du temple saint") und Giuseppe Verdi ("Un di felice, eterea"). Damit stößt er stimmlich zwar hörbar an seine (stimmlichen) Grenzen, was Klassikpuristen als unverzeihlich empfinden dürften - doch genau diese Grenzerkundung ist der rote Faden seiner Karriere. Hätte er die damit einhergehenden Risiken vermieden, David Byrne wäre heute ein anderer, vermutlich unbedeutender Musiker.

Doch so gelingt ihm mit "Grown backwards" das Kunststück eines stilistisch ungemein heterogenen Albums. Die meisten seiner Kollegen würden an dem Versuch, die verschiedenartigen Versatzstücke aus Klassik, Pop, Latin, Jazz und Funk zu einem durchgängigen Klangkonzept zu verdichten, kläglich scheitern. Doch unter Byrnes Regie erhalten noch so verschiedene Stile seine unverwechselbare Handschrift und fügen sich fast von selbst zusammen. So beeindruckt "Grown backwards" nicht nur durch die Vielschichtigkeit der Kompositionen und Arrangements, sondern durch die souveräne Gelassenheit, mit der David Byrne auch auf diesem Album seine Visionen entwickelt.

Einigen gilt "Grown backwards" bereits als sein bestes Album. Doch darüber werden Musikhistoriker späterer Generationen zu entscheiden haben. Fakt ist jedenfalls, dass es nicht erst der Interpretation klassischer Arien bedurfte, um selber zum Klassiker zu werden.

 

© Michael Frost, 01.04.2004


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