"Es
ist eine gute Sprache zum Singen; sie ist so reich an Vokalen."
Nein, nicht von Italienisch ist hier die Rede, sondern von Samisch,
einer südlich des Polarkreise nahezu unbekannten und unverstandenen
Sprache. Unbekannt auch deshalb, weil sie über lange Zeit nicht
anerkannt war. Die Sami leben im nördlichsten Teil des europäischen
Festlands, im Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands und Russlands,
und überall taten die jeweiligen Regierungen ihr Möglichstes,
die Sami zu "integrieren". Tatsächlich ging es darum,
sie ihrer angestammten Lebensweise, Sprache und Kultur zu berauben.
Kinder
wurden in staatliche Internate eingewiesen, nachdem zunächst
die Eltern entmündigt worden waren, alte Riten und Gebräuche
wurden von christlichem Missionseifer verboten.
Mari
Boine Persen, die aus dem norwegischen Teil des Gebiets der Sami stammt,
thematisiert diese staatlichen Repressionen immer wieder in ihren
Liedern, die sie entweder auf Englisch, Norwegisch oder eben auf Sami
singt: "Es ist eine gute Sprache zum Singen: sie ist so reich
an Vokalen."
Seit
ihrer ersten Veröffentlichung aus den 80er Jahren gehört
Mari Boine zu den wichtigsten und international erfolgreichsten Künstlerinnen
der Sami, vielleicht auch deshalb, weil es ihr gelang, die Musik ihres
Volkes nicht nur wieder zu bewahren, sondern wieder zu beleben und
durch äußere Einflüsse zu erneuern. Das "Joiken"
(ein gutturaler Obertongesang), eine alte Gesangsform der Sami, spielt
dabei nur noch in Ansätzen eine Rolle: genauso speist sich die
Musik von Mari Boine heute aus Jazz, Rock, Ambient, Trance und anderen
ethnischen Einflüssen, etwa der indigenen Musik Nordamerikas.
Ihr
ungewöhnlicher, um nicht zu sagen einzigartiger Musikstil fand
schnell internationale Förderer. Es war Peter Gabriel, der bereits
1989 durch ihr zweites Album auf Mari Boine aufmerksam wurde. Er gewann
sie für sein "Real World"-Label, bei dem "Gula
Gula" 1990 ein zweites Mal veröffentlicht wurde - diesmal
weltweit, und legte damit den Grundstein für Mari Boines internationale
Karriere, die nunmehr auch unter der Rubrik "Weltmusik"
firmierte und den Sami Aufmerksamkeit verschaffte.
Wenig
später wurde Mari Boine auch für Jazz-Fans ein Begriff,
als Jan Garbarek sie als Gastsängerin für sein Album "Visible
World" engagierte. Der gemeinsame Titel "Evening land"
gehört sicherlich zu den schönsten Aufnahmen Mari Boines.
In
diesen Tagen erscheint nun, nach fünfjähriger Pause, ein
neues Studioalbum: "Iddjagieðas / In the hand of the night".
Es enthält alles, was Mari Boines außergewöhnliche
Musik seit Jahren ausmacht: berückende, tranceartige Rhythmen,
wunderbar verträumte Melodien, beschwörenden Gesang, der
mal weich wie der ihrer norwegischen Kollegin Kari Bremnes klingt,
dann wild und beschwörend wie die Meditation eines Schamanen,
unterstützt von auf das Wesentliche konzentrierten Percussions,
die erstmals von elektronischen Elementen kontrastiert werden. "Elemente",
sagt Produzent Svein Schultz, "zwischen denen auf den ersten
Blick Welten liegen".
Indem
alte und neue Elemente gleichberechtigt ineinander gefügt werden,
ohne dadurch ihre jeweilige Identität aufgeben zu müssen,
trägt die Musik zur Verständigung scheinbar unversöhnlicher
Hemisphären bei. Das darf durchaus als Metapher für das
gesellschaftliche Anliegen Mari Boines verstanden werden.
©
Michael Frost, 24.08.2006