Das
Lied ist unvergesslich, seit es die Beatles 1962 auf einer
ihrer allerersten Longplaying-Records veröffentlicht
haben: " A taste of Honey" hatte damals der 20-jährige
Paul McCartney gesungen und seine Interpretation war gar nicht
so weit entfernt von derjenigen, die jetzt auf dem neuen Album
von Lizz Wright zu hören ist: Die raue, leicht soulige
Stimme des Working-class-erfahrenen Jungen aus Liverpool gab
diesem Song einen Honiggeschmack, der weit entfernt war von
jedem weichen Kitsch.
Lizz
Wright, die 25-jährige Pfarrerstochter aus dem ländlichen
Georgia (USA), gibt den Liebesversen das gleiche schleppende
Tempo wie damals die Beatles, und ihre Gospel geschulte Kontra-Altstimme
rettet es vor jeder Süßlichkeit. Bill Frisell als
special guest an der Gitarre und David Pitch am Bass unterstreichen
das Durchsichtige, das Erdige, Direkte dieses Liedes, in dem
Rythm´n´Blues und Jazz so zwanglos verschmelzen,
wie es bisher nur Cassandra Wilson vorgemacht hat.
DREAMING
WIDE AWAKE heißt das zweite Album von Lizz Wright, die
im Jahr 2003 mit ihrem Debüt SALT Kritik und Publikum
gleichermaßen beeindrucken konnte. In der New York Times
hatte Stephen Holden die "Reife und Selbstsicherheit"
der jungen Sängerin bewundert, an anderer Stelle wurde
eine Stimme gefeiert, "die den Zuhörer nicht nur
gefällig umschmeichelt, sondern ihn fordert, ihm unmerklich
unter die Haut kriecht in ihrer unkomplizierten Eleganz."
(Matthias Inhoffen, "Stereoplay").
Lizz
Wright liebt kleine, einfache Songs mit klaren Melodien, deren
Größe gerade in ihrer Schlichtheit liegt. Dabei
fügen sich die wenigen von ihr selbst (zum Teil im Team)
geschriebenen Songs ungewöhnlich zwanglos in ihre Auswahl
älterer und jüngerer Rock-, Pop- und Jazz-Titel
ein. Es gehört schon Mut dazu, mit NARROW DAYLIGHT ausgerechnet
den schönsten Song der erst vor einem Jahr veröffentlichten
Diana Krall-CD THE GIRL FROM ANOTHER ROOM zu covern.
Aber
Lizz Wright weiß, was sie kann: Ihre Stimme verströmt
sich in diesem Lied des Komponistenduos Krall-Costello, sie
ist von jener traumhaften Wachheit, die sie im eigenen Titelstück
besingt. Hier klingt nichts gelogen, gekünstelt, aufgesetzt.
Dazu ist sie viel zu sehr am Gospel-Gesang geschult, und von
ihren Wurzeln sollte sie sich auf keinen Fall trennen, obwohl
sie sich - wie sie im Presseheft verrät - von diesen
traditionellen Gesangstechniken wegbewegen möchte.
Craig
Street, der Produzent ihres neuen Albums, ist Spezialist für
Frauenstimmen. Er hat 1993 Cassandra Wilsons Blue-Note-Debüt
"Blue Light till Dawn" produziert. In DREAMING WIDE
AWAKE lässt er jedoch in einigen Arrangements einen schmelzenden
Ton zu, der ins Gefällige gleitet, und man fragt sich,
warum das nötig ist, denn die Songs des Albums leben
von der Charakter-Stimme einer Sängerin, die dann am
stärkten wirkt, wenn die Begleitung puristisch und diskret
im Hintergrund bleibt.
Ihre Versionen von Neil Youngs OLD MAN, von Ella Jenkins´
WAKE UP, LITTLE SPARROW, von A TASTE OF HONEY entfalten eine
Anmut und Aura, die jeden Kitsch wegschmelzen, und Diana Kralls
beschwörende Worte WINTER IS OVER, SUMMER IS NEAR werden
zur Hymne auf den neuen Tag, wie sie schöner und klarer
noch nicht gesungen wurde.
DREAMING
WIDE AWAKE gehört zu jenen Alben, von denen eine Magie
ausgeht, die zwischen den Zeilen, zwischen den Stücken,
zwischen allen guten Zutaten liegt. Sie kann nicht präzise
erklärt, sie kann nur gehört und vielleicht gesehen
werden - in jenem Portrait, das Lizz Wright auf dem Cover
zeigt: es ist das Gesicht einer jungen Frau, die Zerbrechlichkeit
und Sicherheit ausstrahlt, Wärme und Gelassenheit und
eine Souveränität, in der das Junge und das Alte
eins werden.
Nein,
das haben die stürmischen Beatles mit ihrem Solisten
Paul McCartney 1962 noch nicht gekonnt, deshalb entfaltet
A TASTE OF HONEY erst ein halbes Jahrhundert später mit
Lizz Wright jenes Aroma und jene Reife, die diesen Song wirklich
unvergesslich machen wird.
©
Hans Happel, 25. Juni 2005