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Eine Sehnsucht,
die schmerzt

von Hans Happel


Michael Wollny taucht tief ins 19. Jahrhundert ein. Der junge Pianist - seit Jahren als eins der großen deutsches Nachwuchstalente gefeiert - legt jetzt sein erstes Solo-Album vor. Und hier ist deutlich zu hören, dass er die Jazz-Musik revolutionieren will. Denn bei ihm kommt die gegenwärtige Form der Improvisation aus dem Geist der Romantik.

Muss man wissen, was kolportiert wird? Der 28-Jährige zieht sich für dieses wagemutige Projekt im Sommer 2006 einen Monat lang auf die Insel Gotland zurück, hört dort Schubert, Steve Reich, Björk und Joachim Kühn (der einst Thema seiner Diplomarbeit war), sieht zur Einstimmung Filme von Werner Herzog, David Lynch und nicht zuletzt Ken Russells "Gothic" von 1986, er liest Mary Shelleys "Frankenstein", und aus all diesen Geistern, die er gerufen hat, braut er eine Klaviersuite in 17 Teilen zusammen, der er den Titel "Hexentanz" gibt, genannt nach den fünf Mittelsätzen des Albums.

Mag sein, dass Wollny ein ebenso großer Exzentriker ist wie der englische Filmregisseur Ken Russell, der mit Vorliebe Musikergestalten des 19. Jahrhunderts ("Tschaikowsky - zwischen Wahnsinn und Genie") porträtiert, aber bei aller Theatralik seines Albums neigt Wollny keinesfalls zum bombastischen Bilderschwulst.

Im Gegenteil: Er beginnt nach einem Vorspiel, das er Initiation nennt, mit vier verhaltenen Nummern, die jeweils den Titel eines Schubert-Lieds tragen, ohne dass diese Lieder (u.a. "Das Irrlicht", "Der Schatten", "Der Wanderer") neu interpretiert oder adaptiert würden. Wollny, der hörbar mit klassischer Musik aufgewachsen ist, der schon als Kind immer beides spielen gelernt hat, Improvisation ebenso wie Bach und Mozart, nennt seine Annäherungen eine "Schubertiade".

Er öffnet Klangräume, sehr zurückgenommen, sehr intim, sehr verletzlich, auch verstörend, jedes rhythmische Korsett scheint verloren. Seine Klänge wirken wie sanfte, unsichere, manchmal ganz ruhige, manchmal nervöse, fast flatterhafte Suchbewegungen. Dass er dabei seine musikalischen Wurzeln in der Romantik findet, hat er mit dem amerikanischen Pianisten Brad Mehldau gemeinsam. Aber während der Ältere sich auf die strenge Kontrapunktik und die äußerste Eleganz der schönen Form bezog und in "elegiac circle" eine eigene Klarheit gefunden hatte, stellt Wollny die Brüche aus, das Fragment, das Vorläufige.

Seine Improvisationen sind kaum länger als zwei bis vier Minuten, die Melodielinien der rechten Hand werden häufig mit ostinaten Bass-Läufen begleitet, die Motive wechseln abrupt, die Musik ist ein zartes Geflecht aus vielfältigsten Kleinformen, durch die jedoch ein wiederkehrender Grundton schimmert, eine alles überlagernde Stimmung: "Entschleunigung" nennt es Roland Spiegel im Innenteil des Albums.

Die extreme Verlangsamung geht mit einer tief emotionalen Grundhaltung einher, gerade in den schönsten Partien der fünf Hexentänze, die kaum illustrativ theatralisch wirken.

Der Klangraum, den Wollny öffnet, hat weniger mit Schauerromantik zu tun als mit beängstigender Einsamkeit und Verlorenheit, mit einer Form von Verstörung, die Gus Van Sant in seinem Film "Last Days" am Beispiel der letzten Tage Kurt Cobains geradezu unter die Haut gehend vermittelt.

Wollnys Musik ist eine Musik des schwer zugänglichen Innenraums, sie spricht - in Anlehnung an die Romantik - von einer Sehnsucht, die schmerzt. Sie berührt etwas sprachlos Fremdes, sie klingt so entrückt wie die Björk-Songs, die der Pianist zitiert.

Und in Anlehnung an Björks "Joga" kehrt Michael Wollny am Ende aus der verstörenden Einsamkeits-Zone wieder zurück, zurück in eine Heimat, die die Erinnerung an alle Schauer und alle Geister der gefährdeten Innerlichkeit aufbewahrt.

© Hans Happel, 03. März 2007

 


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