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Doppelschlag eines
künftigen Klassikers
von Hans Happel


Er ist 52 Jahre alt und das ist spätestens die Zeit, um zu beweisen, dass man noch am Leben ist. Tom Waits gibt - gemeinsam mit seiner langjährigen Lebensgefährtin und musikalischen Partnerin Kathleen Brennan - zwei CDs auf einmal heraus, es ist der musikalische Doppelschlag eines künftigen Klassikers.

"Alice" und "Blood Money" - das sind ursprünglich Theatermusiken zu Inszenierungen des Bühnen-Magiers Robert Wilson. "Alice" - nach Lewis Carroll - hatte 1992 in Hamburg Premiere, "Blood Money" ist Musik zu Büchners "Woyzeck", Premiere im November 2000 in Kopenhagen.

Die 15 Stücke von "Alice" - alle 1992 mit Kathleen Brennan komponiert - zeigen Waits auf der Höhe seines Könnens. Er hat sich eingesponnen in ein melancholisches Traumland, in eine morbide Phantasie, in dem Rosen und Schatten und Nacht und Mond die vorherrschenden Chiffren sind, in dem es um Blühen und Verblühen geht, und um die Liebe, die den Tod überdauert.

Diese Lieder sind voller Wehmut, aber sie klagen nicht, der Schmerz ist weich wie die Stimme von Waits, die hier selten den bekannten knarzig-gepressten Ton annimmt, sondern sehr zurückhaltend, geradezu schmelzend, schmeichelnd bleibt und eine Wärme ausstrahlt, aus dem der Trost des weisen alten Mannes zu sprechen scheint. Aber vorsichtig: Tom Waits ist ein skurriler Geschichtenerzähler, das Sentiment liegt neben verrätselten surrealistischen Bildern, die Traurigkeit neben der Komik.
"Poor Edward" erzählt von den zwei Gesichtern eines Mannes - das zweite, das Gesicht seines Zwillingsteufels, ist das Gesicht einer jungen Frau, die untrennbar mit ihm verbunden bleibt, weshalb der arme Edward immer mit einem Fuß in der Hölle steht. Die Liebeslieder auf dieser CD klingen wie allerletzte Abschiedslieder ("I`m still here"). "Barcarolle" ist ein schräges Gondellied, das den Sänger schon unter dem Gras ansiedelt.

Am Tiefsten schmerzt die Liebe in "Fish&Bird", einem Märchen in Anlehnung an Hans Christian Andersen oder Oscar Wilde, in dem ein Vogel einen Wal liebt. He said: You cannot live in the ocean And she said to him: You never can live in the sky.

Der Poet Tom Waits hat sich weit entfernt von seinen Anfängen als "singender Bukowski", er besingt noch immer die "dunkle, warme, amerikanische Nacht" (rock-lexikon), aber er hat ihr - in der Zusammenarbeit mit Robert Wilson - einen lyrischen Unterboden gegeben, eine Poesie, die sich aus den Bildern der europäischen Literatur speist.

Musikalisch ist Waits ein Minimalist, er liebt traditionelle Instrumente und einen ohrwürmigen, volksliedhaften Ton, der einfach, aber niemals dumm ist. Unter den fast ausschließlich akustischen Instrumenten dominieren Klarinette, Violine, Cello und Harmonika, zu den einfühlsamen Begleitern gehören u.a. Larry Taylor (Bass), Matt Brubeck (Cello) und Bebe Risenfors (Viola, Violine, Klarinetten).

Das Klangbild ist komplex und zugleich extrem durchsichtig, die Klangfarbe ist zart und von einer intimen Wärme vor allem dort, wo Waits zur - von ihm selbst gespielten - Harmonika singt. Ein Dreamland im Schatten des Todes, ein "Banjo Tango", ein "dance into the shadow", wunderbar leise, leicht und verspielt, denn seine allesgeliebte Alice treibt ihn an, nicht nur zu poetischen Nonsense-Blüten wie Alice Arithmetic Arithmetock I turn the hands back on the clock..., sondern zu sublimen Sprachspielen: I fell through the ice of Alice Theres onely Alice.

Was hat sich mit BLOOD MONEY - fast ein Jahrzehnt später komponiert - geändert? Die Melancholie hat sich in Zorn verwandelt. In "Blood Money" kündigt Tom Waits ungeschminkt direkt und bitterböse eine Menschheitsdämmerung an. Das mag - als Theatermusik - an Georg Büchner angelehnt sein, an die Verzweiflung des armen Mannes Woyzeck, der seine Geliebte ermordet, aber es klingt wie ein Menetekel aufs neue Jahrhundert, in dem "alles zur Hölle geht", in dem niemand mehr dem anderen vertrauen kann, in dem das von "Killern, Dieben und Anwälten" besetzte Schiff namens Erde sinkt, denn - so ein Songtitel: - God´s Away On Business. Männer begehren die roten Rosen anderer Männer (Another Man´s Vine), Frauen schlafen mit Fremden, alle spielen Russisch Roulette und der Prophet im Bauch des Wals verhungert (Starving In The Belly Of A Whale).

Tom Waits Stimme ist härter, schärfer oder einfach heiserer geworden, manchmal könnte er einer Death-Metal-Band entspringen, und die Musik - handgemacht und sparsam wie auf ALICE - ist schroffer. Waits spielt größtenteils mit den selben Musikern zusammen, aber hier dominieren Blechbläser, schrille Töne. Calliope heißt ein Instrumental, in dem Waits die Calliope, eine Art Drehorgel, spielt und nur von der Trompete (Nik Phelps) begleitet wird, eine fast experimentelle Musik, die nichts als Verlorenheit ausdrückt.

Aber es gibt ein Wiegenlied, das den alten Schmerz ahnen läßt: In "Lullaby" verabschiedet sich ein Daddy von seinem Baby, und empfiehlt ihm, die Traumleiter hinaufzuklettern, die Augen zu schließen und zu schlafen, wenn er sterben werde. Gibt es also für die Kinder einen Weg, der aus Daddys schrecklicher Welt herausführt?

Die CD BLOOD MONEY endet dissonant, der erste Song heißt Misery Is The River Of The World und darin lautet eine Zeile If there´s one thing you can say About Mankind, There´s nothing kind about man. Das ist ein plakatives Wortspiel, aber auch die Verzweiflung eines Mannes, der weiß, dass niemand auf prophetische Worte hören wird.

"Tom Waits: Alice / Blood money" ist eine Gast-Kritik
von Hans Happel (Mai 2002).
Was du wissen solltest, wenn du uns auch eine Gast-Kritik senden willst, erfährst du hier.


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