Wer sich an den Legenden des französischen Chansons vergeht, wird vom Feuilleton gern schon mal präventiv zerrissen. Zu groß, zu unantastbar sind Piaf, Brel und all die anderen, als dass man ihren Nachfahren zutrauen würde, es mit den Originalen aufnehmen zu können. Vor einiger Zeit versuchten sich auf "Hymne à la mome" siebzehn französische und internationale Künstler am Repertoire von Edith Piaf, darunter Cheb Mami, Benjamin Biolay, Stephan Eicher und Axelle Red, doch sicherheitshalber ließ man den Reigen von einer anderen Legende eröffnen: Charles Aznavour. Und sowieso gelten für ein "Tribute"-Album wie jenes gemäßigtere Regeln als etwa für Martha Wainwright, die mit
„Sans Fusils, Ni Souliers, A Paris“ ein ganzes Piaf-Programm auf die Bühne brachte.
Vorsicht erschien angebracht, andererseits traut man der Wainwright-Familie inzwischen einiges zu. Marthas Vater Loudon gilt selbst als Ikone, Bruder Rufus feiert nicht nur mit eigenen Songs, sondern aktuell mit Songs von Judy Garland Triumphe. Die in Montreal, als im frankophonen Teil Kanadas aufgewachsene Martha sagt, sie sei schon früh vom Timbre Edith Piafs fasziniert gewesen, von ihrer "totalen Hingabe" und ihrer "unglaublichen Emotionalität".
Dass die Beschreibung auch auf Martha Wainwright zutreffen könnte, war bislang wenigstens eine Vermutung - und wird beim Hören ihres Piaf-Programms zur Gewissheit. Um nicht zu sehr in das Fahrwasser des Vergleichs mit auch heute noch allgegenwärtigen Klassikern wie "Milord", "Sous le ciel de Paris" oder "La vie en rose" zu geraten, wählte sie geschickterweise überwiegend weniger bekannte Chansons für die drei Konzerte aus, die sie im Juni 2009 im New Yorker Dixon Place Theatre geben wollte. In Hal Wilner fand sie einen Produzenten, der ihr Vorhaben visionär begleitete: Beeinflusst von der Musik Kurt Weills arrangiert er den Reigen der zwölf Stücke als Revuetheater mit den Effekten des epischen Theaters.
So kommt in "L'accordeoniste", einem der bekannteren Titel des Programms, alles Mögliche zum Einsatz, nur eben kein Akkordeon. Und in "Non, la vie n'est pas triste" geben sich E-Gitarre, Klavier, Schlagzeug, Geige und Bläser ein furioses Stelldichein. Martha Wainwright gelingt dabei exakt das Timbre aus Hafenbar, Revuetheater und Pariser Straßenszene, das ihr für die Originale vorschwebte. Sie wird dabei nie zur Kopie ihres Idols, sondern findet - ebenso wie ihr Bruder Rufus in den Liedern Judy Garlands, einen eigenen, sehr persönlichen Zugang, ihre eigene Interpretation.
So entzieht sie sich der Gefahr des direkten Vergleichs, und sowieso stürzt sie das Denkmal nicht vom Sockel. Man mag sich vorstellen, dass Edith Piaf diesen Versionen sanft lächelnd zuhört, erfreut über die Unvergänglichkeit ihres eigenen Werks, den Respekt und die Bewunderung, die Martha Wainwright und ihr New Yorker Publikum in "Sans Fusils, Ni Souliers, A Paris" zum Ausdruck bringen. Interessanterweise ist Martha Wainwright selbst noch etwas vorsichtiger: Es gibt noch kein Datum für die Veröffentlichung ihres Albums in Frankreich ...
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Michael Frost, 21.06.2009
Anmerkung: Der Dezember-Ausgabe 2009 des "Rolling Stone" liegt das Konzertprogramm als Mitschnitt auf DVD bei!