Brasilien ist ein Land der Gegensätze. Schönheit und Reichtum auf der einen, Armut und Ausgrenzung auf der anderen Seite. Die Kriminalitätsrate ist horrend - nicht nur während des Karnevals -, und politisch ist das Land durch viele Jahre brutaler Diktatur gebeutelt, auch wenn die Demokratie inzwischen gefestigt ist. Wahrscheinlich wäre das Leben der Brasilianer viel schlechter erträglich, gäbe es nicht diese einzigartige musikalische Tradition, die sich aus der vielfältigen Herkunft der Einwohner speist: Ureinwohner, europäische Einwanderer, afrikanische Sklaven - sie alle hinterließen Spuren, die schließlich in den heute bekannten Stilen zusammen flossen. Am berühmtesten ist natürlich die Samba Carioca, die Musik, die zum Straßenkarneval von Rio de Janeiro gespielt wird.
Diese besondere Form der Samba wird von den Sambakapellen Rios gehütet und bewahrt - und ist dennoch bedroht: Auch der Karneval von Rio durchläuft einen kulturellen Wandel, und viele der alten Lieder werden von den Musikern der jungen Generation nicht mehr aufgegriffen.
Marisa Monte, eine der bedeutendsten Künstlerinnen des Landes, deren Vater darüber hinaus Direktor einer der wichtigsten Samba-Schulen Rio de Janeiros war, begab sich nun auf die Suche nach vielen vergessenen Liedern, die oft niemals in Noten niedergeschrieben, sondern immer nur durch das gemeinsame Spiel überliefert wurden. Über einhundert Sambas förderte ihre akribische Recherche zutage, die schließlich von der "Velha Guarda da Portela" aufgenommen wurde. Die Suche dokumentiert darüber hinaus ein Film, der in Brasilien im April 2008 präsentiert werden soll.
Die "alte Garde" der Sambaschule von Portela gehört zu den profiliertesten Samba-Ensembles, ihre Mitglieder gehören zum Teil sogar selbst zu den Autoren der Sambas, die nun auf dem Album "Tudo Azul" verewigt wurden. Daneben konnte Marisa Monte einige bedeutende Kollegen für ihr Projekt gewinnen: Moreno Veloso, Sohn der Bossanova-Legende Caetano Veloso, außerdem Cristina Buarque und Paulinho da Viola, und schließlich Marisa Monte selbst, zum Abschluss des Albums im Duett mit dem berühmten Cellisten und Arrangeur Jaques Morelembaum. Die englische Übersetzung der Originaltexte für das Booklet (lag dem Rezensenten nicht vor) übernahm der New Yorker Electro-Bossanova-Spezialist Arto Lindsay.
Zweiundzwanzig Sambas enthält die Auswahl auf "Tudo azul", allesamt in ihrer sehr ursprünglichen und unverfälschten Form aufgenommen, mit spürbarer Leidenschaft interpretiert - die ideelle Nähe zum Buena Vista Social Club ist sicherlich kein Zufall: Auch in Kuba gingen musikalische Pensionäre auf die Suche nach den eigenen Wurzeln, bewahrten sie vor der Vergessenheit und bereicherten dadurch nicht nur das kulturelle Erbe ihrer Heimat, sondern inspirierten Musiker weit über Kuba hinaus.
Mit der Samba lassen sich Sorgen und Nöte so einfach wie sonst nirgends für eine Nacht wegtanzen. Das ist kein Ausdruck von Gleichgültigkeit den sozialen Verhältnissen gegenüber und daher verwerflich, sondern eine Überlebensstrategie, zu der auch die Redewendung passt, die dem Album seinen Titel gab. "Tudo azul", sagt man und wischt alle Probleme mit breitem Lächeln vom Tisch, "alles blau - alles gut."
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Michael Frost, 24.02.2008