In 
          der Musik sollte man mit dem Begriff "visionär" vorsichtig 
          umgehen. Denn was wirklich als visionär gelten kann, versteht man 
          ausschließlich im Rückblick. Andersherum gesagt: was heute 
          als visionär gilt, kann schon morgen als Fehlschlag gelten.  
          Dem 
            visionären Charakter von der Chicagoer Band Tortoise jedenfalls 
            hat bislang niemand ernsthaft besprochen. Die Gruppe ist - von zweimaligem 
            Wechsel der Zusammensetzung abgesehen - seit 1989 zusammen. Damals 
            begannen Dough McCombs und John Herndon ein erstes gemeinsames Projekt, 
            das sie "Simple" nannten. Erst später kamen weitere 
            Multiinstrumentalisten hinzu - jeder der Musiker von Tortoise spielt 
            wenigstens zwei unterschiedliche Instrumente, die meisten sogar deutlich 
            mehr. Inzwischen gehören neben den genannten Gründungsmitgliedern 
            noch Dan Bitney, John McEntire und Jeff Parker zu Tortoise. Letzter 
            spielt auch beim Chicago Underground Trio, einem der viel versprechendsten 
            Projekte der aktuellen Jazz-Szene.
          Doch 
            auch die anderen Musiker spielen nebenbei - oder auch in der Hauptsache 
            - in anderen Bands. Vielleicht erklärt sich dadurch, weshalb 
            "It's all around you" erst das fünfte Album in der 
            über zehnjährigen Karriere von Tortoise ist. Über ein 
            Jahr habe man für die Studioaufnahmen benötigt, erzählt 
            das Quintett. Die Arbeit an solch komplexen Strukturen braucht eben 
            ihre Zeit, doch das Ergebnis ist bezwingend - allerdings erst, wenn 
            man sich richtig hineingehört hat. Keine der Kompositionen erschließt 
            sich bereits beim ersten Hören, und wer noch immer in Kategorien 
            von U- und E-Musik denkt, dürfte bei der Einordnung dieses Albums 
            seine liebe Mühe haben. 
          Die 
            Zusammensetzung von Tortoise in Bezug auf die musikalische Herkunft, 
            Instrumente und Stile formt einen Genre-übergreifenden Sound, 
            der zwischen NuJazz, Post-Rock und Electronica pendelt und daraus 
            ganz neue Standards entwickelt, die man eines Tages vielleicht tatsächlich 
            als "visionär" bezeichnen wird.
          © 
            Michael Frost, 19.06.2004