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Alles ist neu,
alles ist anders
Gast-Beitrag von Friederike Haupt


Über das letzte Konzert der 1999er-Tour von Tocotronic schrieb der Hamburger Musiker Thees Uhlmann: "Zum letzten Mal steigt der Bass in extremster Kompetenz an der richtigen Stelle ein und spielt Töne, die man vielleicht nur dann spielen kann, wenn man das Instrument so beherrscht, wie es kein anderer beherrscht. Leute ohne Ahnung sagen dann immer: "Die können ja gar nich spielen."" So steht es im Tocotronic-Tourtagebuch ‚Wir könnten Freunde werden', und so war es schon immer. "Die können ja gar nicht spielen. Die schreiben ja total humorlose Texte. Die mit ihren Trainingsjacken, die sind ja schwul und können noch nicht mal tanzen", so die üblichen Vorwürfe der Leute ohne Ahnung. Die anderen Leute mögen "Digital ist besser" und verstehen Tocotronic.

1995 erschienen, bietet das Debutalbum der nach einem Vorläufer des Gameboys benannten Hamburger Band dem geneigten Hörer 18 Songs, die ihresgleichen suchen. Und nein, das ist keine Übertreibung. Was Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank da im zarten Alter von 23 bzw. 24 Jahren eingespielt haben, sind Musikstücke, die - natürlich - beim oberflächlichen Hören so klingen, als wären sie einfach so dahingeschreddert. Aber das genau ist ja der Punk. Dass man nicht zehn Jahre zur Musikschule gegangen sein muss, um Stücke zu schreiben, die etwas, zum Beispiel ein Gefühl oder einen Gedanken, transportieren, sollte klar sein. Es sind eben nicht die "Das war jetzt aber ein schiefer Akkord!"-Pedanten, die die Welt in Atem halten.

Was die Texte betrifft, so muss man zugeben, dass auf "Digital ist besser" relativ wenige bis überhaupt keine Zeilen dazu veranlassen, mit überlegenem Grinsen "Haha, was für ein subtiles Wortspiel, das da mit ebenso hintergründigem Humor wie offensichtlichem Sarkasmus daherkommt!" zu sagen. Allerdings ist fraglich, ob die Welt wirklich noch mehr Wortartistik in Liedtexten braucht. Bei Tocotronic sind die Texte, auf ihrem ersten Album genauso wie auf den fünf weiteren bisher erschienenen, eher Ausdruck reflektierter, aber auch diffuser Gefühle; Situationen werden beschrieben, manchmal bewertet - Identifikationspotenzial en masse für Jugendliche, die sich in einer Welt mit bunten Uhren und Ausgehzwang am Samstag abend nicht zurechtfinden wollen. "Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool", heißt es auf "Digital ist besser", und: "Alles ist neu, alles ist anders." Dass die Texte so manchem nicht gefallen, liegt in der Natur der Sache. Es ist mit Tocotronic vielleicht ein bisschen wie mit Hermann Hesse: Irgendwann ist man zu alt dafür. Nicht unbedingt zu alt an Jahren, aber zu abgeklärt, zu lebenserfahren, um die beschriebenen Gefühle so nachzuempfinden, dass man sie versteht. Wobei die Themenpalette groß ist und mit Anspielungen nicht gespart wird: Bezüge zum Filmemacher Rhomer, zum Philosophen Cioran oder auch zur Grunge-Metropole Seattle werden hergestellt, es geht um Liebe, die Welt und Gitarrenhändler.

"Digital ist besser", das Album, das Tocotronic auf einen Schlag zu den Klassenbesten der vielzitierten Hamburger Schule machte, ist ein Album, das man auch heute, wo die "10th Anniversary"-Edition von Tocotronic in den Läden steht, kaum hoch genug schätzen kann. Viele sagen, es sei das beste der Band - Dirk von Lowtzows Gesang ist eher ein Genöle, die Texte klingen wie das Glaubensbekenntnis einer Jugendbewegung, und das Cover mit der rosa Schrift und den drei Seitenscheitel-Jungs in Kordhosen spricht für sich. Leuten ohne Ahnung gefällt es wahrscheinlich nicht.
"Tocotronic: Digital ist besser"
ist eine Gast-Kritik von Friederike Haupt.
© Friederike Haupt, September 2004



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