Von
der sinnlichen Sentimentalität seiner Soundtracks zur "Fabelhaften
Welt der Amelie" und "Goodbye Lenin" ist bei Yann Tiersen
im Jahr 2006 nur wenig geblieben. Wohl so übermächtig ist
das Image, das der französische Klangkünstler und Multiinstrumentalist
durch seine Filmmusik selbst erzeugte, dass er es heute mit breiten
Gitarrenriffs, Rap und Düsterpop wieder einebnen möchte.
Schon
mit seinem letzten Album "Les retrouvailles" trat Yann Tiersen
den geordneten Rückzug an. Er engagierte Elizabeth Fraser, einst
Aushängeschild der Cocteau Twins und Dauergast bei Massive Attack.
Und inzwischen übernimmt Tiersen immer wieder sogar selbst die
Gesangsparts, eine Rolle, die er früher vorwiegend seinem Kollegen
Dominique A überließ.
Doch
der ist nun, zum ersten Mal seit Jahren, nicht mehr auf einer Album-Veröffentlichung
von Yann Tiersen zu hören. Und auch sonst ist "On tour"
eine Überraschung: Denn abweichend vom üblichen Vorgehen,
bei dem neue Songs zunächst auf Studioalben veröffentlicht
und anschließend live präsentiert werden, geht er den umgekehrten
Weg.
"On
tour" besteht immerhin fast zur Hälfte aus neuen Kompositionen,
deren Tempo durch Drums, Gitarre und Geige bestimmt wird: Yann Tiersen
2006 ist laut, schnell, druckvoll und engagiert. Elisabeth Frazer
ist dabei ebenso von der Partie wie zwei Mitglieder der französischen
Ethno-Punk-Hiphop-Band "Têtes Raides".
Tiersens
langjähriger Gitarrist Marc Sens wird deutlich spürbar von
der Leine gelassen: Sowohl am Instrument darf er sich austoben als
auch stimmlich: "State of shock" dürfte sicherlich
den einen oder anderen Musikfan befallen, der die leisen Musette-Walzer
des "Amelie"-Soundtracks erwartete.
Doch
Yann Tiersen tut das einzig Vernünftige, um sich selbst seine
Kreativität und seine Karriere vor dem Stillstand zu bewahren:
er bringt Chanson, Rock, Hiphop, Folk und Punk zueinander und setzt
einen weithin hörbaren Kontrapunkt.
©
Michael Frost, 16. November 2006