Die
Beurteilung der Filmmusik, die der bretonische Komponist Yann Tiersen
für Wolfgang Beckers Film "Good Bye Lenin" schrieb,
wird die Kinogänger in zwei Lager spalten: solche, die Tiersen
bereits durch seinen Soundtrack zur "Fabelhaften Welt der Amélie"
kennen und die wenigen, die diesen Kino-Erfolg verpasst haben.
Fast
nahtlos nämlich knüpft der Soundtrack zu Beckers Wende-Groteske
dort an, wo Amélie aufhörte - und nimmt sogar bewusste
Überschneidungen in Kauf. Das mutet seltsam an, denn die Plattenbau-Tristesse
von Marzahn hat so wenig von der verträumten Poesie des Pariser
Montmartre, und so wirken die lautmalerischen Klavieretüden des
Yann Tiersen vor dem Hintergrund der realsozialistischen Wiederauferstehung
zunächst seltsam deplatziert und irritierend.
Doch
wenn Tiersen in seltenen Momenten das Pianoforte und das Streichorchester
zugunsten scheppernder Bläser verklingen lässt, dann entfernt
er sich nicht nur am deutlichsten vom Amélie-Konzept: In diesen
Passagen wird auch die epische Funktion seiner Musik am überzeugendsten.
Es entfalten sich blecherne Miss- und Zwischentöne, die den grotesken
Handlungsablauf von "Good Bye Lenin" unterstreichen und
die Erkenntnis wachsen lassen, dass man dem Film Unrecht tut, wenn
man ihn der banalen "Ostalgie" bezichtigt. Im Kern nämlich
legt der Film den Finger in die Wunde des bizarren Selbstbetrugs,
dem Funktionäre, Mitläufer und Systemgegner in der DDR -
auf unterschiedliche Weise - aber letztlich sämtlich zum Opfer
fielen - manchmal sogar erst nach dem Mauerfall.
Dass
diese Darstellung der verschiedenen Schicksale mit soviel Wärme,
Verständnis und Respekt vor der Würde des Einzelnen gelingt,
wie man es sonst eher aus den Sozialdramen des neueren britischen
Kinos kennt, daran haben neben dem sensiblen Drehbuch und den überzeugenden
Darstellern die leisen und verträumten Balladen Yann Tiersens
einen nicht unerheblichen Anteil - und deshalb ihre Berechtigung.
Dennoch
bleibt "Amélie" allgegenwärtig, und jeder, der
diesen Film und seine Musik kennt, kommt nicht umhin, sie bei der
Beurteilung Tiersens Arbeit für "Good Bye Lenin" mitzudenken.
Ständig
erwartet man ihr Auftauchen in den "79 Quadratmetern DDR",
die Regisseur Becker für seinen Film wieder aufbauen ließ.
Das spricht für den einzigartigen Wiedererkennungswert des Amélie-Soundtracks.
Einzigartigkeit bedeutet aber auch die Unmöglichkeit der Nachahmung
oder der Wiederholung. Und hierin besteht die eigentliche Problematik
dieses Soundtracks.
©
Michael Frost, 08. März 2003