Die
eigentliche Überraschung der vergangenen Deutschland-Tour von Air
war Sebastien Tellier. Der Franzose war mitsamt Begleiterin Pamelia
Kurstin als Support engagiert worden. Im Outfit des Grafen Rasputin
(andere Kritiker beschrieben ihn als Mischung zwischen Pavarotti und
Dracula) intonierte er seltsame Balladen mit Gitarrenbegleitung, während
seine Partnerin einer geheimnisvollen Kiste Töne aus elektrischen
Schwingungen entlockte, sich dann und wann kreischend zu Boden warf,
als ob sie der Schlag getroffen hätte.
Der
Auftritt verursachte überwiegend Ratlosigkeit, doch der Name
blieb haften, und mit ihm die Neugier auf das neue Album dieses Meisters
des Grotesken. Nun ist es soweit. "Politics" heißt
das neue Werk Seiner Merkwürdigkeit, und schon die Covergestaltung
dient der Überhöhung des Maestro, der die Promotion für
das Album als "Kampagne" bezeichnet und in wöchentlichem
Rhythmus über das renommierte französische Musikmagazin
"Les Inrockuptibles" Wahlkampfreden verbreiten lässt,
in denen er nicht weniger als die Rettung der Welt und die Übernahme
von Friseur- und Kosmetikerrechnungen durch die Sozialversichterung
verspricht:
"Im
Verlauf meiner Kampagne werden wir so unterschiedliche Themen ansprechen
wie die Migration, das vereinigte Deutschland, die Arbeit in der Welt,
den Genozid der amerikanischen Ureinwohner, den Platz der Liebe in
unseren Gesellschaften oder auch die Lösung der Probleme der
Dritten Welt."
Was
den Zuhörer auf "Politics" tatsächlich erwartet,
klingt streckenweise überraschend mehrheitsfähig: Tellier
präsentiert mehrsprachige Popmusik, mal akustisch, mal elektronisch
oder mit jazzigen Einlagen, jedoch weitaus weniger radikal als seine
bisherigen Auftritte erwarten ließen. Auch ein deutschsprachiger
Titel ist zu hören: "Mauer", in der die tragische Geschichte
einer deutschen Tennisspielerin erzählt wird, die seit dem Mauerfall
ihren Sport nicht mehr ausüben kann. Auch dies eine zum Himmel
schreiende Ungerechtigkeit, die der Kandidat Tellier zu lösen
gedenkt.
Politik
und Absurdes befinden sich seit Menschengedenken in einer symbiotischen
Beziehung. Doch bei Tellier erwächst daraus ein Programm, das
in eine simple Forderung mündet. Seinem Wahlvolk, das sich auf
einer eigens eingerichteten Website zu seinem "Kandidaten"
bekennen kann, verkündet Tellier ganz in der Tradition großer
politscher Parteien: "Kauft 'Politics', und ihr werdet frei
sein".
©
Michael Frost, 15. Januar 2004