Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de

Still sitzen,
Augen schließen
- und genießen


Kritiker machen es den Musikern, deren Produktionen sie rezensieren, oft recht schwer. Behält eine Band den Stil des vorigen Albums bei, wird die neue CD als Aufguss des bereits Bekannten niedergeschrieben. Wird der Stil dagegen verändert, erscheint der fehlende rote Faden als Angriffsfläche. Und besonders riskant ist sowieso stets das "zweite Album", das die Erwartungen des Debüts unbedingt erfüllen - möglichst sogar übertreffen muss, um nicht als Eintagsfliege abgeschrieben zu werden.

In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch "Angel milk", das zweite Album des als Geheimtipp gefeierten Elektro-Drums&Bass-Triphop-Trios "Télépopmusik" - und, um es gleich vorweg zu sagen: die Band hat alles, aber auch wirklich alles richtig gemacht.

Gegenüber ihrem phänomenalen Album "Genetic world" nämlich haben sie fast gar nichts geändert, sondern lediglich ihre Stärken ausgebaut. Sogar Angela McCluskey ist wieder mit von der Partie, die Sängerin, deren derbe und rauchige Stimmfärbung irgendwo zwischen Billie Holiday und Beth Gibbons angesiedelt ist - es ist keineswegs eine Übertreibung, sie als eine der charismatischsten Stimmen der internationalen Popszene zu bezeichnen, und es wäre eine Schande gewesen, wenn sie auf dem neuen Album nicht vertreten gewesen wäre.

Fabrice Dumont, Stephan Haeri und Christophe Hétier, die drei genialen Soundtüftler von Télépopmusik, haben den unschätzbaren Wert dieser Stimme jedoch erkannt und setzen McCluskey, wie schon auf dem gefeierten Debüt-Album "Genetic world", perfekt in Szene.
Sie eröffnet das Album mit den Worten "Sit still, and close your eyes" - als ob es diese Aufforderung ernsthaft bedürfte! Gebannt lauscht man dieser Stimme, die insgesamt vier Albumtracks veredelt, darunter "Love's almighty", einen rauschhaften Song, der mit einem wogenden Rumbarhythmus beginnt und sich unter den schwelgenden Klängen eines Symphonieorchesters und einer Big Band zu einem lautmalerischen Klanggebilde im James Bond-Soundtrack-Format aufbaut: "'Angel milk' zu genießen heißt, dem Zauber von Sirenen zu verfallen" (Pressetext) - wohl wahr!

Doch wie schon auf "Genetic world" beschreibt die Affinität des Trios und seiner kongenialen Interpretin zum elegischen Triphop nur die eine Seite der Medaille. Denn auch Rapper Mau ist wieder mit von der Partie. Die Rhythmen, die ihm von Dumont, Haeri und Hétier maßgeschneidert wurden, erinnern stark an die düsteren Drums&Bass-Phantasien von Massive Attack, unterlegt mit kühler Elektronik, kontrastiert von fernöstlichen Motiven, die sie mit der Koto, einer japanische Zither und tibetanischen Gongs beschwören.

"Brighton beach" (wiederum mit dem Gesang von Angela McCluskey) erscheint als Hommage an Björks introspektives Album "Vespertine" - da flimmert und raschelt es, dass es eine wahre Freude ist, und doch bleibt hinter all den unterschiedlich formierten Aspekten ein Muster erkennbar, das sich einerseits an der Spitzengruppe des internationalen "Avantgardepop" (Pressetext) orientiert, andererseits aber ein ungeheuer hohes Maß an Individualität und Wiedererkennungswert besitzt.

Dafür sorgt übrigens auch eine weitere Gaststimme, die schon seit "Genetic world" zum Stamm von Télépopmusik gehört: Deborah Anderson. Ihre Stimme hat exakt die Facetten, die vom rauen, ungeschliffenen Gesang Angela McCluskeys nicht bedient werden können: Andersons Stimme wirkt hell, klar, zart und verletzlich. So ist es das von ihr interpretierte Stück "Into everything", das in Frankreich als erste Single des neuen Albums ausgekoppelt wurde.

"Angel milk" ist tatsächlich mehr als nur ein würdiger Nachfolger von "Genetic world". Es ist ein großes Album einer großen Band, die einmal mehr unter Beweis stellt, dass sie über Visionen verfügt und alle Mittel besitzt, diese Visionen auch zu realisieren. Damit gehört Télépopmusik endgültig zur Avantgarde nicht nur der französischen, sondern der internationalen Popszene.

Das einzige, was man ihnen wirklich vorwerfen kann (und sollte), ist, dass sie ihre Fans drei Jahre auf diesen Nachfolger warten ließen.

© Michael Frost, 20. Mai 2005


[Archiv] [Up]