Kritiker
machen es den Musikern, deren Produktionen sie rezensieren, oft recht
schwer. Behält eine Band den Stil des vorigen Albums bei, wird
die neue CD als Aufguss des bereits Bekannten niedergeschrieben. Wird
der Stil dagegen verändert, erscheint der fehlende rote Faden
als Angriffsfläche. Und besonders riskant ist sowieso stets das
"zweite Album", das die Erwartungen des Debüts unbedingt
erfüllen - möglichst sogar übertreffen muss, um nicht
als Eintagsfliege abgeschrieben zu werden.
In
diesem Spannungsfeld bewegt sich auch "Angel milk", das
zweite Album des als Geheimtipp gefeierten Elektro-Drums&Bass-Triphop-Trios
"Télépopmusik" - und, um es gleich vorweg
zu sagen: die Band hat alles, aber auch wirklich alles richtig gemacht.
Gegenüber
ihrem phänomenalen Album "Genetic world" nämlich
haben sie fast gar nichts geändert, sondern lediglich ihre Stärken
ausgebaut. Sogar Angela McCluskey ist wieder mit von der Partie, die
Sängerin, deren derbe und rauchige Stimmfärbung irgendwo
zwischen Billie Holiday und Beth Gibbons angesiedelt ist - es ist
keineswegs eine Übertreibung, sie als eine der charismatischsten
Stimmen der internationalen Popszene zu bezeichnen, und es wäre
eine Schande gewesen, wenn sie auf dem neuen Album nicht vertreten
gewesen wäre.
Fabrice
Dumont, Stephan Haeri und Christophe Hétier, die drei genialen
Soundtüftler von Télépopmusik, haben den unschätzbaren
Wert dieser Stimme jedoch erkannt und setzen McCluskey, wie schon
auf dem gefeierten Debüt-Album "Genetic world", perfekt
in Szene.
Sie eröffnet das Album mit den Worten "Sit still, and
close your eyes" - als ob es diese Aufforderung ernsthaft
bedürfte! Gebannt lauscht man dieser Stimme, die insgesamt vier
Albumtracks veredelt, darunter "Love's almighty", einen
rauschhaften Song, der mit einem wogenden Rumbarhythmus beginnt und
sich unter den schwelgenden Klängen eines Symphonieorchesters
und einer Big Band zu einem lautmalerischen Klanggebilde im James
Bond-Soundtrack-Format aufbaut: "'Angel milk' zu genießen
heißt, dem Zauber von Sirenen zu verfallen" (Pressetext)
- wohl wahr!
Doch
wie schon auf "Genetic world" beschreibt die Affinität
des Trios und seiner kongenialen Interpretin zum elegischen Triphop
nur die eine Seite der Medaille. Denn auch Rapper Mau ist wieder mit
von der Partie. Die Rhythmen, die ihm von Dumont, Haeri und Hétier
maßgeschneidert wurden, erinnern stark an die düsteren
Drums&Bass-Phantasien von Massive Attack, unterlegt mit kühler
Elektronik, kontrastiert von fernöstlichen Motiven, die sie mit
der Koto, einer japanische Zither und tibetanischen Gongs beschwören.
"Brighton
beach" (wiederum mit dem Gesang von Angela McCluskey) erscheint
als Hommage an Björks introspektives Album "Vespertine"
- da flimmert und raschelt es, dass es eine wahre Freude ist, und
doch bleibt hinter all den unterschiedlich formierten Aspekten ein
Muster erkennbar, das sich einerseits an der Spitzengruppe des internationalen
"Avantgardepop" (Pressetext) orientiert, andererseits aber
ein ungeheuer hohes Maß an Individualität und Wiedererkennungswert
besitzt.
Dafür
sorgt übrigens auch eine weitere Gaststimme, die schon seit "Genetic
world" zum Stamm von Télépopmusik gehört:
Deborah Anderson. Ihre Stimme hat exakt die Facetten, die vom rauen,
ungeschliffenen Gesang Angela McCluskeys nicht bedient werden können:
Andersons Stimme wirkt hell, klar, zart und verletzlich. So ist es
das von ihr interpretierte Stück "Into everything",
das in Frankreich als erste Single des neuen Albums ausgekoppelt wurde.
"Angel
milk" ist tatsächlich mehr als nur ein würdiger Nachfolger
von "Genetic world". Es ist ein großes Album einer
großen Band, die einmal mehr unter Beweis stellt, dass sie über
Visionen verfügt und alle Mittel besitzt, diese Visionen auch
zu realisieren. Damit gehört Télépopmusik endgültig
zur Avantgarde nicht nur der französischen, sondern der internationalen
Popszene.
Das
einzige, was man ihnen wirklich vorwerfen kann (und sollte), ist,
dass sie ihre Fans drei Jahre auf diesen Nachfolger warten ließen.
©
Michael Frost, 20. Mai 2005