Tékitoi?
- Wer zum Teufel bist du? Die Frage treibt Rachid Taha um. Sie begleitet
ihn von Algerien, dem Land seiner Eltern, über Frankreich, seinem
Lebensmittelpunkt, bis nach Mexico City, wo er jüngst zwei umjubelte
Konzerte gab.
Seinen
Aufenthalt in Mexiko dokumentiert die Bonus-DVD, die seiner neuen
CD ("Tékitoi") in limitierter Auflage beiliegt. Immer
wieder zeigt der Film Mexikaner, die nur diese eine Frage in die Kamera
rufen: "¿Quien es?" - Wer bist du?
Für
Rachid Taha ist die Antwort vor allem eine Frage der Perspektive.
Was seine Musik angeht, so gelte sie in London als Electro, auf dem
Womad-Festival als Rai, anderswo als Rock, in Mexiko vielleicht als
europäisch, arabisch, afrikanisch.
Den
Lateinamerikanern empfiehlt er jedenfalls, den Begriff der "Weltmusik"
für sich neu zu definieren. Aus ihrer Perspektive sei nicht etwa
mexikanische Folklore, sondern David Bowie und U2 Weltmusik. Taha
wendet sich somit deutlich gegen die angloamerikanische Einteilung
der Regale im Plattenladen nach dem Motto: Hier die Musik, dort die
Welt. Er impliziert damit ein neues Selbstbewusstsein der so genannten
"Dritten Welt" und bedauert gleichzeitig, dass die Popmusik
Arabiens, der Raï, nicht den gleichen Stellenwert erreichte wie
etwa jamaicanischer Reggae. "Uns fehlt ein Bob Marley",
sagt Taha, der diese Rolle womöglich selbst ausfüllen könnte
- wenn er denn wollte.
Aber
Taha will nicht. Er ist, wie auf "Tékitoi" deutlich
wird, kein Vertreter des "klassischen" Raï. Das unterscheidet
ihn von Kollegen wie Khaled, Cheb Mami und Faudel. Taha will in eine
andere Richtung. Vermutlich deshalb hat er sich Joe Strummers Klassiker
"Rock the Casbah" angeeignet, ins Arabische übersetzt
und gemeinsam mit seinem langjährigen musikalischen Begleiter
Steve Hillage neu eingespielt. Nicht nur an diesem Experiment auf
"Tékitoi" ist kein Geringerer als Brian Eno beteiligt.
In "Rock el Casbah" versteckt er sich im Hintergrundchor
"The Casbah Boys", doch insgesamt dürfte sein Anteil
an der Produktion deutlich größer sein.
Taha,
Hillage, Eno und Christian Olivier formen auf "Tékitoi"
eine wahnwitzige Mischung aus psychedelischem Rock, Pop, Raï,
Techno und Electronica. Auch dies gerät zum Statement gegen das
Schubladendenken, das arabische Künstler (sofern diese Beschreibung
auf Taha, der seit seinem 10. Lebensjahr in Frankreich lebt, überhaupt
zutrifft) zu arabischer Musik verdammt. Tékitoi - wer zum Teufel
bist du? - für jemanden wie Rachid Taha, der sich zeit seines
Lebens zwischen verschiedenen Kulturen bewegt, ist das zweifellos
eine existenzielle Frage. Woher kommen wir, was ist unser Ziel und
welcher Weg führt dorthin - das alles sind Fragen, die vermutlich
nur jemand so nachdrücklich aufwerfen kann, der es gewohnt ist,
zwischen den Stühlen zu sitzen.
Oft
genug haben gerade Künstler diese Situation zur Selbsterkenntnis
genutzt davon ausgehend Fragen an die Gesellschaft gestellt. Fragen,
wie sie eben auch Rachid Taha stellt: nach Toleranz, politischer Mitbestimmung,
Zugang zu Bildung und Lebenschancen. Die allgemeine gesellschaftliche
Relevanz seiner Thematik erkennt man auf "Tékitoi"
an der erstaunlichen Resonanz des Publikums in Mexiko. So unterschiedlich
Lateinamerika und der Maghreb auch sein möglich, in politischer
Hinsicht gibt es deutliche Parallelen: Beides sind Regionen am Rand
der Großmächte USA bzw. EU. Viele ihrer jungen Bewohner
träumen von einer Zukunft im reichen Norden. Rachid Taha, selbst
ein Immigrant, bringt das Beziehungsgeflecht zwischen Nord und Süd
bissig auf den Punkt: "Europa wird immer auf Immigranten angewiesen
sein. Ebenso wie die USA auf GIs. Und Mexiko dient ihnen dazu als
Farm."
Also: Tékitoi?
Michael
Frost, 15. Oktober 2004