Nichts
passt so wenig zu Emilie Simon wie die Zuschreibung des "Lolita"-Klischees,
das man ungefähr jeder zweiten französischen Sängerin
so gern anheftet, weil die Welt - und manche Kritikermeinung - es
nun einmal gerne einfacht hat. Doch an Emilie Simon prallt jedes Klischee
gnadenlos ab, wenigstens dann, wenn man einmal gut hingehört
- und besser noch: hingesehen - hat.
Denn
die zierliche 27-Jährige hat es faustdick hinter den Ohren, und
hinter ihrem charmant-zarten Wesen verbirgt sich eine Vollblutmusikerin
mit einer klaren Vorstellung vom eigenen Ausdruck. In Frankreich traut
man ihr zwischenzeitlich alles zu. Sie erhielt die wichtigste Auszeichnung
des Landes, den "Victoire de la Musique", schon für
ihr Debütalbum, und ein weiteres Mal für ihre zweite Veröffentlichung,
die Filmmusik zur "Reise der Pinguine".
Jetzt
hat sie mit "Vegetal" ihr zweites reguläres Studioalbum
veröffentlicht, das sie während einiger Auftritte auf dem
"Francophonic Festival" auch in Deutschland vorstellte.
Und wer sie dort live erlebte, wird ihre Musik fortan besser verstehen
können. Denn die Art, wie die Songs zustande kommen, ist für
Emilie Simon fast gleichbedeutende mit der Musik selbst. Das lässt
ihre Auftritte zur Performance werden, und deshalb ist es wichtig,
ihre Musik auch zu sehen.
Bei
Emilie Simon dient kaum ein Instrument seiner ursprünglichen
Bestimmung. Die E-Gitarre wird malträtiert, ihr Klang im Computer
bis zur Unkenntlichkeit zerhackt, die Herkunft der übrigen Geräusche
ist ein Fall für Physiker und Informatiker, doch traditionelle
Musiker werden Geräten, die zum Teil wie eine Mischung aus Kaugummiautomaten
und Ikea-Plastikhockern aussehen, sicherlich keine Töne entlocken.
Doch Emilie Simons Gerätschaften, darunter Waschmaschinenschläuche,
Wasserschüsseln und elektrostatische Felder entwickeln sich zu
einem geschlossenen, auf wundersame Weise charmant-harmonischem Ganzen,
kraftvoll und dröhnend, sinnlich und betörend. Auf dem Album
arbeitet sie zusätzlich mit Streichern, die wie schon bei den
von ihr spürbar verehrten isländischen Kollegen Sigur Ros
und Björk gern in bewussten Widerspruch zu den digitalen Elementen
gesetzt werden.
Und
selbst ihr zunächst mädchenhaft wirkender Gesang offenbart
bei genauerem Hinhören eine ungeahnte Tiefe, in der sie die Stimmung
ihrer Songs exakt widerzuspiegeln versteht. Manchmal intoniert sie
mit naivem Augenaufschlag, doch spätestens bei ihrer an die Nieren
gehenden Coverversion von Nirvanas "Come as you are", sich
selbst am Flügel begleitend, wird die ganze Breite ihres Ausdrucks
klar.
Die
pure Fassung der Adaption führt zudem zu ihren eigenen Songs
zurück. Denkt man sich dabei die ganzen elektronischen Spielereien
einmal weg, wird deutlich, dass Emilie Simon eigentlich eine - positiv
verstanden - konventionelle Songschreiberin ist, die für das
klassische Chanson lediglich ein neues, zeitgemäßes und
sehr stimmiges Soundkonzept gefunden hat. So betrachtet dient ihr
elektronisches Set nicht einem Selbstzweck, sondern ist Instrument
bei der Vermittlung von Stimmungen und Emotionen: mit durchweg großartigem
Ergebnis zwischen Tanzwut und Gänsehaut.
Das
durchdachte, unverwechselbare Konzept macht "Vegetal" zu
einem hoch spannenden Album - und Emilie Simon zu der Ausnahmemusikerin,
die sie heute bereits in Frankreich ist, und morgen hoffentlich auch
bei uns. Von wegen "Lolita".
©
Michael Frost, 05.11.2006