Keine Angst: So sperrig, wie es der zungenbrecherisch anmutende Album-Titel
"Með suð í eyrum við spilum endalaust" vermuten lässt, ist der Inhalt keineswegs. Eher schon spiegelt das Covermotiv die spielerische Leichtigkeit der Musik wider: Es zeigt vier Nackte beim hastigen Überqueren einer Landstraße, die Situation erinnert an scheue Rehe.
"Mit einem Summen im Ohr spielen wir endlos" bedeutet die Übersetzung des Titels. Es ist das fünfte Album von Sigur Rós, Islands Vorzeigeformation, die einen gänzlich eigenen Sound in die Musikwelt trugen. Leise versponnen oder bildgewaltig, episch wie die Landschaft, in der sie entstanden ist. Um die lautmalerische Atmosphäre zu unterstützen, singen Sigur Rós meist auf Isländisch, gelegentlich in einer selbst erfundenen Kunstsprache, und jetzt erstmals auch auf Englisch, allerdings ohne nennenswerten Unterschied: Das Mysteriöse bleibt - zum Glück.
Insgesamt jedoch ist "Með suð í eyrum við spilum endalaust" ein vergleichsweise fröhliches Album. Schon der lustige Titel des Openers "Gobbledigook" findet in der schwungvollen Musik seine Entsprechung, und auch im Verlauf des Albums finden sich immer wieder wunderschön harmonische Momente, etwa in "Göðan daginn", während "Við spilum endalaust" - jedenfalls für Sigur Rós-Verhältnisse - fast als Popsong durchgehen könnte.
"Festival" wiederum, in der Mitte zwischen den beiden Stücken gelegen, die gemeinsam den Albumtitel ergeben, ist dann Sigur Rós' fulminante Rückkehr zu feierlicher Opulenz. Am Anfang stehen die beiden charakteristischen Elemente, die Leadsänger Jónsi Birgisson in seiner Person vereint: Die mit einem Geigenbogen gestrichene E-Gitarre und der hohe, bisweilen an Falsett grenzende Gesang, der den Zuhörern bei Konzerten einen Gänsehautschauer nach dem anderen über den Rücken jagt.
Ein Experiment der besonderen Art ist dann wiederum
„Ára Bátur“, Herzstück des Albums. Sigur Rós arbeiteten mit insgesamt 90 Instrumentalisten und Sängern an diesem Stück, bis sie es schließlich mit allen Beteiligten in einer gemeinsamen Aufnahme einspielten. In einer für die Band typischen Dramaturgie wird der bombastische Schluss unendlich einfühlsam, nach einem langen Intro mit Jónsis Gesang und Kjartan Sveinssons Piano eingeführt. Erst nach mehr als fünf Minuten entsteht eine Situation, die klingt, als würde ein Regen verhangener Himmel sich öffnen und erste Sonnenstrahlen in Form anschwellender Streichersätze durchlassen, die kurz darauf von einer gewaltigen Bläsersektion unterstützt werden. Darüber erhebt sich erneut Jónsis Gesang, höher noch als der ebenfalls einsetzende Knabenchor (!). Was hier in der Beschreibung fast kitschig und überladen klingt, wirkt in der musikalischen Umsetzung hingegen fast selbstverständlich und organisch, zumal es anschließend durch die nordisch schlichte Klarheit der Gitarren-Ballade "Illgresi" wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt wird.
""Með suð í eyrum við spilum endalaust" ist wohl das bilang vielseitigste Album von Sigur Rós und steht somit im Kontrast zu den frühen, betont homogenen Einspielungen. Man darf also davon ausgehen, dass die Band auf der Suche nach neuen Einflüssen ist, hier und dort bereits fündig wurde und mit vielen Ideen experimentiert. Das quirlige Streicherinnen-Quartett Amiina, trotz gegenteiliger Ankündigungen immerhin noch teilweise mit von der Partie, wird zunehmend durch andere Elemente, etwa Orchester oder das erstmals eingesetzte Mellotron, erweitert oder auch ersetzt.
Wohin diese Reise schließlich führen wird, bleibt zunächst offen. Vielleicht und sicherlich zur Begeisterung der vielen gemeinsamen Anhänger entwickelt sich aus dem Konzert, das die Band nächste Woche gemeinsam mit Björk zugunsten von isländischen Umweltschutzprojekten geben wird, auch eine künstlerische Kooperation mit wiederum neuen Perspektiven - und einem fortgesetzten, endlosen Summen im Ohr.
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Michael Frost, 21.06.2008