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Der 'Scissors'-Effekt


Für die Scissor Sisters ist das ganze Jahr Karneval. Seit Village People kam aus New York kein so beherzt und offen schwuler Sound mehr, der nun einen Retrosound der besonderen Art abfeiert: irgendwo zwischen Agnetha und dem schrillen Falsett der Bee Gees, den bizarren Brillengestellen eines Elton John, Harpo und Suzie Quatro, dem Beginn des Plastikpop der 80er und den viel zu engen Kostümen von John Travolta - nichts, so scheint es, ist den "Sisters" heilig, und schon gar nichts ist vor ihnen sicher.

Und so lebt auch "Ta-dah" (was für eine Fanfare!), wie schon ihr fulminantes Debüt von 2005, von der absoluten Hemmungslosigkeit. Wo Madonna sich mit einer ganzen Entourage von Produzenten kunstvoll um den Retrosound bemüht, da trashen die Scissor Sisters einfach drauf los, kopieren und kupfern ab, was das Zeug hält, schöpfen aus dem gesamten Fundus der 70er Jahre: Glamrock, Disco, Europop. Und nicht selten sind ihre Songs besser als die Vorbilder - denn im Unterschied zu ihren Idolen haben sie begriffen, dass der schräge Sound der 70er schon damals nur als Karikatur funktionierte.

Heute - und keiner weiß genau zu sagen, wie es kam - sind die Scissor Sisters Megastars. Drei Auszeichnungen räumten sie bei den Britawards ab, nachdem ca. ein Viertel der britischen Bevölkerung wenigstens eine ihrer Platten gekauft hatte, wie sogar die Tagesthemen kürzlich anerkennend zusammen rechneten. Und schon steht "Ta-dah" in den Top 10 der internationalen Charts - auch in Deutschland. Am 4. November werden die fünf "Sisters" sogar bei "Wetten Dass" auftreten.

Hört man sich das Album mit dem Ziel an, dem Erfolgsrezept auf die Schliche zu kommen, wird man scheitern. Beobachtet man jedoch andere, während sie das Album hören, wird der Scissors-Effekt deutlich. Schon beim Opener, der ausgerechnet "I don't feel like dancing" heißt, beginnen nämlich die Beine zu wippen, die Hände schlagen rhythmisch auf die Oberschenkel.

Und was dann passiert, ist exakt wie in einer Szene aus "In & Out", der Coming-Out-Komödie um einen schwulen Highschool-Lehrer (gespielt von Kevin Kline). Auf keinen Fall, so die Lektion seines kuriosen Selbstlernkurses für betont heterosexuelles Auftreten, dürfe ein 'echter' Mann zum Sound von Gloria Gaynors Disco-Knaller "I will survive" auch nur mit den Zehen wippen. Kline scheitert bereits mit dem ersten Takt und liefert darauf hin einen der leidenschaftlichsten und exaltiertesten Tänze der Filmgeschichte ab.

Und genau das gleiche könnte auch Ihnen bei der Musik der Scissor Sisters geschehen. Sie sind nämlich schwuler als Sie annehmen. Ta-dah!

© Michael Frost, 26.09.2006


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