Die
Mail kam bereits im Januar, ihr Inhalt war ebenso knapp wie eindeutig:
"Musst du unbedingt hören: Sanséverino. Für mich
schon jetzt die Platte des Jahres." Der Verfasser der Nachricht
weiß, wovon er spricht: Gerd Heger ist der Frankreich-Experte
im deutschen Radio. Seine wöchentliche Sendung ("Rendez-Vous
Chanson", Sonntag 21.00 - 22.00 Uhr auf SR2) stellt jeweils
die wichtigsten Trends der französischen Nachbarn vor, und Heger
gab es lang bevor die "nouvelle vague", der "Neo-Chanson"
mit Biolay, Delerm, Keren Ann, Dominique A. und all den anderen inzwischen
heiß geliebten Namen nach Deutschland schwappte.
Seltsam,
aber für Stéphane Sanséverino hat sich hierzulande
bislang niemand interessiert - von Gerd Heger einmal abgesehen. Doch
sein Tipp ist Gold wert: "Exactement", Severinos in Rede
stehendes Album, ist ein Füllhorn grandioser Songideen und ihrer
nicht minder fantastastischen Umsetzung: ein Vollblutmusiker, wie
sie auch in der pulsierenden Musikszene der Grande Nation nicht alle
Tage vorkommen.
Dass
die deutsche Musikindustrie mit dem umtriebigen Italo-Franzosen (seine
Familie wanderte in den 50er Jahren aus Neapel nach Frankreich aus)
nicht so recht etwas anfangen kann, dürfte in der Unmöglichkeit
begründet sein, seine Musik in ein Genre zu pressen. Denn in
Sanséverino begegnen sich die Gitarren von Django Reinhardt
und Jimi Hendrix, das wortgewaltige Chanson von Georges Brassens und
der Bigband-Swing der 50er Jahre.
Besonders
begeistert er sich für die Musik der Roma und Sinti, ob nun ihrem
französischen Zweig, den Manouches, oder den Roma vom Balkan
und ihren explosiven Blechbläsern - vor allem Temperament und
Virtuosität hat Sanséverino verinnerlicht und in seinen
eigenen Sound übertragen.
Unter
den französischen Musikstars der Gegenwart ist er der Anarchist,
der nichts auf Regeln, Konventionen und Moden gibt - sondern jeweils
seine eigenen kreiert. Damit steht er in der Tradition seiner eigenen
künstlerischen Biografie, die er als Komödiant und Theaterspieler
begann. Severino interessierte sich für die commedia dell'arte,
das alte italienische Volkstheater, in dessen Stücken die Obrigkeit
oft genug dem Spott der Bevölkerung preis gegeben wurde.
Spottlieder
sind auch viele seiner eigenen Kompositionen, oft mit ironischen Seitenhieben,
nicht nur gegenüber anderen, sondern auch sich selbst, und inzwischen
auch mit einer recht deutlichen politischen Sprache, besonders offensiv
in "Les ouvriers" (Die Arbeiter) über die Beziehung
zwischen abhängig Beschäftigten und Kapital und in "Le
swing du Président" über die Gefahren der Atomkraft
- in Frankreich bislang nur ein Minderheitenthema.
Dass
er auch ernsthafte Thema in mitreißender musikalischer Verpackung
transportiert, ist ein zusätzlicher Reiz dieses Ausnahmekünstlers
- Sanséverino ist kein sauertöpfischer Moralapostel, sondern,
ganz im Sinne seiner Theatererfahrung, ein Clown, ein arlecchino,
hinter dessen Lachen sich, wie man weiß, auch immer eine ernste
Absicht verbirgt.
Nun
fehlt ihm noch eine deutsche Plattenfirma mit ebensolchen Absichten,
die sich vornimmt, ihn dem hiesigen Publikum schmackhaft zu machen.
Das wäre absolut gerechtfertigt, denn der Meinung, "Exactement"
sei eine der besten Platten des Jahres, wird an dieser Stelle nicht
widersprochen - im Gegenteil!
©
Michael Frost, 02.08.2007