Ihren Karrierestart soll Rye während des Wartens auf eine Fähre erlebt haben. In Belgien wartete sie auf die Überfahrt nach England, als sie ihre Gitarre auspackte und vor den anderen Passagieren zu singen begann, die ihr spontanen Applaus spendeten.
Wie auch immer die Geschichte sich wirklich zugetragen hat: Viel mehr als ihre samtige Folk-Stimme, die Akustikgitarre und ein zugewandtes Publikum benötigt Rye auch heute noch nicht - sie ist eine Liedermacherin - neudeutsch "Songwriterin" - im wohltuend altmodischen Sinne, auch wenn sie das Gitarrespiel inzwischen ihrem musikalischen Partner Lothar Müller überlässt und sich ganz auf den Gesang konzentriert.
Ihre Musik funktioniert immer und überall, weil sie vom ersten Augenblick an authentisch klingt, nur mit größter Vorsicht zusätzliche Sounds (hier eine E-Gitarre, dort mehrstimmiger Background-Gesang) einfügt, um die stille Harmonie ihrer entspannten Songs nicht zu zerstören.
Die Musik der Berlinerin hat viele Vorbilder - aber nicht in Deutschland. Joni Mitchell und Joan Armatrading sind dabei vielleich nur die Pioniere eines Stils, der sich aus Blues, Folk und Akustikpop zusammen setzt, wie ihn auch Rye auf "My reality" präsentiert. Die Erd- und Naturverbundenheit ist durch den ungefilterten Sound allgegenwärtig, wird durch den Künstlernamen der Sängerin ("Roggen") nur noch bestärkt.
So entsteht die Assoziation einer Musik gleich einem luftigen Windhauch, der durch ein goldgelb im Sonnenlicht schimmerndes Getreidefeld weht - doch die pathosfreie Reduziertheit von "My reality" vermeidet dieses kitschige Klischee. Überhaupt wirkt es niemals aufgesetzt oder bemüht, dramatische Wendungen hat es nicht nötig, ihm reicht ein ruhiger Fluss aus leisen Harmonien, in denen es sich wunderbar tagträumen lässt. Und die Wartezeit auf die nächste Fähre vergeht damit im Fluge.
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Michael Frost, 19.04.2008