Catherine
Ringer wollte schon immer einmal Mundharmonika spielen. Also kaufte
sie sich letzten Sommer ein Instrument und übte darauf ein paar
Melodien. Damit setzte sie sich zu ihrem Partner Fred Chichin ins
Cabrio, öffnete das Verdeck und ließ sich von Paris aus
durch Frankreich fahren. Während der Fahrt ließen sich
beide den Mistral um die Ohren wehen, Ringer spielte Chichin einige
der Melodien vor, erfand weitere, sang dazu ein paar Worte, erst ohne
Zusammenhang, doch schon nach kurzer Zeit entstanden ganze Texte,
alles wie von selbst.
Und
nach einigen Zwischenstopps in ländlichen Bars, diversen Gläsern
Wein und Pastis, war das Konzept für "Variéty"
fertig. Französisch sollte es sein, aber auch international -
es sollte die Weite der Landschaft beschreiben, die Freiheit, die
Lebensfreude und die satte Magie des Frühsommers, sollte Pop,
Rock und Folk in einem sein. Daher die Schreibweise in "Franglais",
einer Mischung aus Französisch und Englisch.
Zurück
in Paris gingen die beiden ins Studio und nahmen die Lieder auf. Und
als sie fertig waren, hatten sie, vielleicht zum eigenen Erstaunen,
ihr bestes Album seit "Système D" von 1993 produziert
- vielleicht sogar das beste Album ihrer Karriere überhaupt.
Die
Entstehungsgeschichte ist zugegebenermaßen erfunden. Das macht
aber nichts: "Variéty" klingt nämlich so, als
ob. Vor allem Catherine Ringer ist superb: Kraftvoll bewältigt
sie mehrere Oktaven und eine fast unheimliche Bandbreite von Stimmungen
zwischen gefühlvollem Chanson, überbordendem Temperament
und aggressivem Rocksong. "She's a calaidoscope of colour,
soul and sound" heißt eine Textzeile aus "She's
a chameleon" - treffender kann man Catherine Ringers Einsatz
auf "Variéty" nicht beschreiben.
Nie
zuvor war das Avantgarde-Popduo so lässig, ausgelassen fröhlich
und konzentriert zugleich; nie zuvor waren ihren Melodien so heiter,
so mitreißend, so sinnlich, ausgereift und catchy. Völlig
unerwartet reihen Les Rita Mitsouko einen Ohrwurm an den nächsten,
angefangen mit dem herrlich entspannten "L'ami ennemi" bis
zum Powerrock des abschließenden "Terminal beauty",
einem rauschhaften Duett von Catherine Ringer mit Serj Tankian (System
of a Down).
Dazwischen
liegen faszinierende Songideen wie "Même si" oder
"She's a chameleon", "Ma vieille ville" und "Ding
ding dong" - letzteres ein verrückter Poptitel, bei dem
Ringer & Chichin ihrem schrägen Humor freien Lauf lassen:
der augenzwinkernde Kitsch macht ihnen einen Riesenspaß, und
dem Zuhörer auch. In Frankreich wurden die Fans gerade zum Remix-Wettbewerb
gebeten.
Ein
wohl nicht zu unterschätzender Anteil des Erfolgs dürfte
wohl Mark Plati zukommen. Der New Yorker ist einer der gefragtesten
Produzenten weltweit und ein Spezialist für ausgefeilte, intelligent
und raffiniert konstruierte Popharmonien, deren Eingängigkeit
das Publikum mitreißen soll - und dabei zu keinem Zeitpunkt
banal wird. Vor allem durch seine Arbeit mit David Bowie und The Cure
machte Plati sich einen Namen, doch die Liste derer, die von seinem
feinen Soundgespür profitierten, ist nahezu endlos.
Im
Gegensatz zum Synthiepunkpop vergangener Alben basiert "Variéty"
auf einem überwiegend akustischen Konzept. Die immer wieder auftauchende
Mundharmonika verbreitet die relaxte Grundstimmung, die allgegenwärtige
Stimme Ringers elektrisiert; dazu kommen Saxophon, Klavier, Gitarren,
Mandoline, Flöte, Cello, Schlagzeug und Percussions - die Varietät
der Instrumente ist ähnlich groß wie alle übrigen
Zutaten dieses Albums, bei dem alles stimmt.
Der
Sommer kann also kommen. Im Cabrio, auf französischen oder anderen
Landstraßen, mit einem Glas Pastis, einer Mundharmonika - und
"Variéty" im Ohr.
©
Michael Frost, 25.05.2007
Nachtrag: "Variéty" wird leider das letzte Album von Les Rita Mitsouko bleiben, denn am 28. November 2007 starb Fred Chichin an Krebs. Weit über Frankreich hinaus verliert die Musikwelt einen ihrer kreativsten Köpfe.