Ihr
Ruf ist zweifellos legendär. Kaum eine Formation hat die französische
Rockmusik in den vergangenen zwei Jahrzehnten so mitgeprägt wie
das Duo Fred Chichin und Cathérine Ringer, weit über die
eigenen Landesgrenzen hinaus als "Les Rita Mitsouko" berühmt.
Ihren extrem tanzbareren Sound kultivieren die beiden bereits seit
den 80er Jahren, als sie noch der Post-Punk- und Wavepop-Szene zugerechnet
wurden. Doch schon damals waren Les Rita Mitsouko zu extravagant und
unabhängig, um vollends in den Sog einer bestimmten Strömung
zu geraten. Sie hätten diesen Zustand als Beschränkung empfunden.
Das
Besondere ist ihnen bis heute geblieben, auch wenn man angesichts
immer längerer Pausen zwischen den Alben befürchten musste,
dass der Zenith bereits hinter ihnen liegen könnte. Doch seit
zwei, drei Jahren herrscht wieder rege Betriebsamkeit, und noch immer
sind Les Rita Mitsouko für Überraschungen gut.
Jetzt
gerade wieder: "Concert Lamoureux" ist das erste Live-Album
seit acht Jahren, und zu diesem Anlass tat sich das Duo gleich mit
einem ganzen Symphonieorchester zusammen, und zwar mit dem Pariser
Orchestre Lamoureux aus, einer Formation mit langer Tradition (die
Gründung unter Charles Lamoureux erfolgte 1881) und ungewöhnlichen
Prinzipien: Die Konzerte, die im Théâtre des Champs-Elysées
stattfinden, beginnen bereits im Foyer mit Darstellungen von Straßenkünstlern,
Musiker und Dirigent unterliegen weder Frack- noch Fliegenzwang, und
um die Trennung zwischen Instrumentalisten und Zuhörern zu durchbrechen,
können einige Besucher auch direkt auf der Bühne Platz nehmen.
Außerdem organisiert das Orchester Workshops und musikpädagogische
Projekte für Kinder und Erwachsene.
In
all seiner Unkonventionalität ist das Orchestre Lamoureux genau
der richtige Partner für Les Rita Mitsouko - und umgekehrt. Allerdings
nicht etwa - und darin besteht das Besondere dieser außergewöhnlichen
Produktion - um die eigenen Songs in klassischen Farben neu erstrahlen
zu lassen, wie es dieser Tage in der Pop/Rock-Branche fast schon zum
guten Ton gehört, aber nicht immer zu solchen führt.
Nein,
Les Rita Mitsouko erweitern die Gelegenheit zur Chance und verändern
gleich ihr gesamtes Repertoire. Nur eine Minderheit der mit dem Orchestre
Lamoureux eingespielten Titel stammt aus der eigenen Feder. Tatsächlich
startet das Konzert mit drei bewegenden Chansons des großen
Leo Ferré, in denen vor allem eine Person zu großer Form
aufläuft: Cathérine Ringer selbst, die Sirene des frankophonen
Punkrock, ertönt mit reifer, voller und leidenschaftlicher Stimme,
ein wirklich fulminanter Einstieg in ein Album der Extraklasse, dem
weitere Highlights folgen, darunter Neil Youngs "A man needs
a maid", Charles Trénets "Où sont ils donc?"
und "Le velours des vierges", eine Komposition des legendären
Serge Gainsbourg.
In
dieses Chanson mündet der einzige Instrumentaltitel des Albums,
"Mad Rush" von Philip Glass, mit einem großartigen
Bruno Fontaine am Klavier. Weshalb dieses Piano-Intermezzo auf das
Album gelangte, man kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist
fantastisch, und als Les Rita Mitsouko die Leinen zum Konzertende
hin etwas lockerer lassen und das Orchester zu Höchstleistungen
anspornt, da überträgt sich auch die euphorische Stimmung
des Publikums auf den gebannt Zuhörenden am Hifi-Lautsprecher,
und man darf wohl sagen, dass es sich bei diesem Konzert um einen
wahren Triumph handelt, in der die Ringer nochmals die ganze Dramatik
ihrer Stimme, deren Spannbreite von der Elegie zur Ekstase reicht.
Und
ein weiterer Aspekt wird deutlich: Mit dieser Produktionen lassen
Les Rita Mitsouko jede Genregrenze verschwinden. Was in Deutschland
völlig undenkbar wäre, ist bei unseren Nachbarn gängiger
Alltag: Rock, Punk, Ethno und Chanson verschmelzen nicht nur für
ein einzelnes Projekt, nein, sie bedingen einander, weil sie sich
in der Isolation niemals weiter entwickeln würden.
Für diese Erkenntnis stehen Cathérine Ringer und Fred
Chichin von jeher in besonderer. Sie haben Punk, Rock, Soul, Wave,
Raï und Electro ebenso in ihren Sound integriert wie den Musette-Walzer
und die verschiedenen Spielarten des Chansons - und auf diesem Album
fließt die geballte Erfahrung ihres Repertoires vor dem dramaturgisch
perfekt arrangierten Orchestersound ineinander.
Keine
Frage, in der Theatersprache würde man diese Inszenierung einen
Triumph nennen.
©
Michael Frost, 27.03.2004