Lou
Reed, am 2. März 1943 geboren, ist gerade 61 Jahre alt
geworden. Der Rock-Poet, der in den 60-ern mit seinen Songs
für Velvet Underground an der Chronik der New Yorker
Außenseiter-Szene mitschrieb und als Komponist und Songschreiber
seit Jahren dem Theatermagier Robert Wilson zuarbeitet, hat
im letzten Jahr eine hörenswerte Audioversion des gemeinsamen
Edgar Allan Poe-Spektakels veröffentlicht (Lou Reed,
The Raven, vgl. CD-Kritik), eine Studioproduktion, in der
er zusammen mit vielen befreundeten Künstlern auftritt.
Im
selben Jahr ist er auf Reisen gegangen, und jetzt liegt der
zweistündige Livemitschnitt eines Konzerts am 24. Juni
2003 im Wiltern Theatre, Los Angeles vor. "Animal Serenade"
heißt die Doppel-CD. Die Serenade ist - nach klassischer
Definition - ein heiteres Ständchen, eine lockere Folge
verschiedener Sätze in kleinerer Besetzung.
Das
trifft dieses Lou Reed-Konzert ganz gut. Er tritt nur mit
wenigen Getreuen auf. An seiner Seite stehen der Gitarrist
Mike Rathke, der hier auch in die Tasten greifen muß,
und Fernando Saunders am Bass, der zusätzlich die Kickdrums
bedient. Jane Scarpantoni spielt - wie schon bei "The
Raven" das Cello (mit einem furiosen Solo in VENUS IN
FURS) und Antony (mit vibratoreicher soulig angelegter Chorknaben-Stimme)
übernimmt erneut den Background-Gesang.
Das
Konzert hat Höhepunkte und Schwächen. Reed versucht
- sechs Jahre nach der letzten Live-Retrospektive PERFECT
NIGHT - erneut eine Retrospektive. Er beginnt vielversprechend
mit einem stark groovenden "Smalltown Boy", in dem
Reed seinen Gitarristen vorstellt, in dem er locker mit dem
Publikum plaudert und mit seiner unnachahmlich jungen und
spröden Stimme im Schlußrefrain feststellt, "you
know, you´ve gotta leave the smalltown!"
Aber
nur wenige Songs können mit diesem souveränen Auftakt
standhalten. Lou Reed schwebte offenbar ein lässiges
Kammerkonzert vor, in dem manches unschön klingen darf,
in dem nicht alles so genau genommen werden muß, in
dem der "Baudelaire von New York" (Thomas Groß
im Pop-Lexikon) fast beiläufig ganz Neues und ganz Altes
nebeneinander setzen kann, Velvet-Underground-Standards wie
HEROIN, CANDY SAYS, VENUS IN FURS, stehen neben Songs aus
den 70-ern und 80-ern, jüngeren wie SET THE TWILIGHT
REELING, und jüngsten aus der CD "The Raven",
darunter das gesprochene Poe-Gedicht als Titelstück,
VANISHING ACT und CALL ON ME.
Und
gerade bei den letzteren sind die Schwächen der Live-Aufnahme
am deutlichsten hörbar: Denn die Titel aus der POEtry-Arbeit
wirken in der Studioproduktion konzentrierter, und - wenn
der Schauspieler Willem Dafoe "The Raven" rezitiert
- weitaus spannender und differenzierter als in diesem lockeren
Los-Angeles-Ständchen.
Warum
muß Lou Reed unbedingt Poes Gedicht sprechen? Was hat
ihn bewogen, dieses Konzert weltweit zu vertreiben? Ist es
etwa doch die Angst vor dem Alter? Will er zeigen, dass seine
Stimme die alte und ewig jung geblieben ist? Denn in der Tat:
Es ist die charismatische Stimme, die zählt, die so verführerisch
zweideutig wie eh und je daherkommt, so schnoddrig, so trocken,
so gebrochen, so direkt und ehrlich, dass sie alle Künstlichkeit
der Arrangements noch immer durchbricht.
Am
Besten ist Reed dort, wo er auf breit gestrichene Celloarrangements
verzichtet, wo ihn nur Mike Rathkes Gitarre begleitet und
das Konzert nicht nur authentische Live-Atmosphäre ausstrahlt,
sondern kammermusikalisch intim wird. Die ostinaten Gitarren-Riffs
in ECSTASY und STREET HASSLE können süchtig machen,
und einige Songs gelingen großartig, zum Beispiel THE
DAY JOHN KENNED DIED oder DIRTY BLVD.. Hier tritt der skeptische
Amerikaner auf, der Freiheitsträumer und Kritiker aller
Bigotterie, der sein Land genau beobachtet. Aber auch SET
THE TWILIGHT REELING (1995), Reeds Traum vom neuen Mann, und
der älteste Titel, HEROIN, kommen so überzeugend
kräftig und mit "animalischer" Energie rüber,
dass der alternde Rockpoet keine Angst haben muß: Dieser
Mann gehört noch längst nicht zum alten Eisen.
Und
was er kann, das bleibt ihm - trotz dieser gar nicht perfekten
CD, die mehr Dokument als Kunstwerk ist. Sie dokumentiert
unüberhörbar, dass Lou Reed lebt. Und dafür
hat der tierische Verwandlungskünstler, der sich seit
Jahrzehnten treu bleibt, einen prägnanten Titel gefunden:
"Animal Serenade" ist eine gute Pointe.
©
Hans Happel, 22. März 2004