Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de

Großartige Nicht-CD


Wie kann ein Album zur "CD der Woche" erklärt werden, wenn es als CD überhaupt nicht zu haben ist? Da bedarf es schon einer Rockband, die keine Rockmusik macht, um die dialektische Verstrickung aufzulösen. Gut möglich, dass Radiohead dieser Tage vormachen, wie das Musikgeschäft in der Zukunft funktionieren könnte. Dabei stellt die britische Band um ihren Kopf, Stimme und Vordenker Thom Yorke nicht nur sich selbst, sondern vor allem ihre Fans auf die Probe: "In Rainbows", das neue Album, gibt es nur als Download im Internet, und nicht auf einem der kommerziellen Portale wie Itunes oder Musicload, sondern auf der bandeigenen Website.

Der Clou: Die Kundschaft entscheidet den Preis für den Download selbst. Plattenlabel, professionelles Marketing und Promotion-Agenturen gucken in die Röhre, dürften das Experiment aber mit einiger Besorgnis betrachten. Denn keine Veröffentlichung dieses Jahres hat auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit auf sich gelenkt wie der Versuch der Briten, wieder Herr über das eigene Produkt zu werden, selbst wenn Radiohead keineswegs die ersten sind, die diesen Versuch der Selbstbestimmung unternehmen.

Doch nur im ersten Moment erscheint die Strategie von Yorke & Co. gegen die etablierte Musikindustrie gerichtet zu sein. Radiohead legen das Gelingen ihres hochspannenden Versuchs vor allem in die Hände der Konsumenten, die nunmehr offen bekennen müssen, wie viel ihnen die Musik der besten Band der Welt Wert ist.

Entscheiden sich zu viele Hörer für den Download zum Nulltarif, gefährden sie damit in letzter Konsequenz das Auskommen der Musiker, denn der Verweis auf die unverhältnismäßige Beteiligung der bösen Musikindustrie funktioniert hier nicht mehr: außer der Band selbst verdient niemand an "In Rainbows".

Glaubt man ersten Berichten, ist dem Veröffentlichungscoup bereits nach einer Woche ein sensationeller Erfolg beschieden: Laut spiegel.de soll das Onlineportal von Radiohead bereits ca. 1,2 Mio. Downloads verzeichnen, bei einem durchschnittlichen Preis von 4 Pfund (5,70 Euro).
Angesichts dieser Zahlen wird die Band es sogar verschmerzen können, dass ca. 1/3 der Nutzer gar nichts zahlten: Bei einem regulären Verkauf der CD lägen die Produktionskosten und Anteile der Mitverdiener deutlich höher, der Gewinn für die Band wäre entsprechend geringer.

So bekommen Radiohead für ihre Musik viel Geld, und die Musikhörer im Übrigen auch viel Musik fürs Geld, denn "In Rainbows" ist eine großartige Nicht-CD, in der die Band nach langer Zeit gut gelaunt und nach Herzenslust mit allen möglichen Stilrichtungen experimentiert. Von der früher attestierten "Verkopftheit", wenn der Vorwurf denn überhaupt jemals berechtigt war, ist auf "In rainbows" nichts zu spüren.

Die Songs lassen wieder Spaß an der Melodie erkennen, sie arbeiten sowohl mit Breakbeats als auch mit flirrenden Geigen ("Nude"), sind temporeich, gewohnt (atmo)sphärisch und durchgängig von einer nervösen Unruhe getragen, die vom ersten Augenblick des Eröffnungstitels "15 step" an absolut elektrisierend wirkt. Selbst für die bereits verschollen geglaubte Gitarre finden Yorke & Co. wieder prominente Einsatzmöglichkeiten ("Bodysnatchers") - ohne dass sie deswegen zum Gitarrenrock zurückkehren würden.

Thom Yorke bleibt der weltbeste Sänger ohne Gesangsstimme und offenbart unter anderem mit dem Schlusssong "Videotape" ein weiteres Mal sein phänomenales Gespür für schneidend kalte Balladen an der Grenze zum Gefrierbrand.

So haben Radiohead auch mit ihrem (theoretisch) 8. Studioalbum in jeder Hinsicht die Nase vorn. Dennoch weiß die Band sehr genau, dass auch der Erfolg ihres Experiments bestenfalls ein Etappensieg auf dem Weg zur vollständigen künstlerischen Freiheit ist. Denn ganz ohne Vermarktung wird sich auch auf längere Sicht kein kommerzieller Erfolg gewährleisten lassen, zudem ist die CD in den Augen der meisten Fans allen Unkenrufen zum Trotz auch weiterhin ein real existierendes Produkt, das man im Laden sehen, anfassen und kaufen kann. Durch die bewusst aufwändige und künstlerische Aufmachung ihrer Alben haben Radiohead in Vergangenheit übrigens selbst dazu beigetragen, die Wertschätzung des Produktes "CD" hoch zu halten.

Und so soll es "In Rainbows" Anfang 2008 doch noch als reguläres Album zu kaufen geben, und womöglich erklären wir es dann erneut und ganz ohne dialektischen Diskurs ein weiteres Mal zur "CD der Woche".

© Michael Frost / 14.10.07

Videolink: "Jigsaw falling into place" (Quelle: youtube)
 

 



[Archiv] [Up]