Der Berg ist so hoch, dass man sich den Aufstieg vor lauter Respekt kaum zutraut. An kein Comeback der letzten Jahre wurden vergleichbare Erwartungen geknüpft. Natürlich, oft genug geriet die Rückkehr mancher Ex-Stars zum gesellschaftlichen Ereignis, doch Portishead stand noch nie für Mainstream, Starrummel und Single-Charts - von ihnen verlangt man nichts Geringeres als große Musik.
Und alle, die das sorgsam gehütete Geheimnis "Third" vorab hören durften, ließen bereits wissen, dass sämtliche Erwartungen sogar noch übertroffen werden sollten, allenthalben verteilen Kritiker Höchstnoten, und das für eine Musik, die sperrig ist und klaustrophob, beklemmend und empfindlich - und dabei so eigenwillig und sonderbar, dass selbst der Spiegel, sonst auf beständiger Enthüllungsjagd, bekennt, über Portishead möglichst nichts in Erfahrung bringen zu wollen - aus purer Angst, die Wahrheit "könnte zu gewöhnlich sein, um sie zu ertragen".
"Third" ist das erste Portishead-Album seit zehn Jahren, und überhaupt erst das dritte Studioalbum der Band aus Bristol. Wie lange das Trio aus Geoff Barrow, Adrian Utley und der einzigartigen Beth Gibbons daran arbeitete, ist Teil der Legende, die hier nicht hinterfragt wird. Unterbrochen wurde die Sendepause lediglich durch das Soloalbum Gibbons' "Out of season", das sie 2003 gemeinsam mit Paul Webb (Talk Talk) produzierte.
Wie also nähert man sich diesem Werk, dem schon jetzt epochale Bedeutung beigemessen wird? - Am besten von vorn, alles ausklammernd, was durch zu großen Respekt den Zugang erschweren könnte, nur die Musik selber in sich aufnehmend.
Das Album beginnt gleich mit einer Überraschung. Eine Radiostimme reziert in brasilianischem Portugiesisch Auszüge der späteren Songtexte. Dann setzt ein drängender Rhythmus ein, eisig kalt und immer enger, bis schließlich, nach mehr als zwei Minuten, endlich Beth Gibbons' Stimme ertönt: "Tempted in our minds // Tormented inside lie // Wounded and afraid ..." Dieses Grundgefühl von Verletzung und Angst zieht sich sowieso durch die Alben von Portishead, doch bislang nie so zugespitzt wie jetzt auf "Third". Der rote Faden wurde in diesem Moment aufgegriffen, und die Band lässt ihn fortan nicht mehr los.
Alle Farben dieses Albums sind dunkel, jeder Anflug von Hoffnung, wie er etwa in "Hunter" durch das Zusammenspiel von Gesang und Akustikgitarre durchschimmert, wird sofort von donnerndem Störfeuer zunichte gemacht. Doch zu spät: Längst ist man der Elegie dieses Sounds verfallen, zu tief in seiner Atmosphäre versunken, gefangen in einer verschlossenen Welt, von der Band als Kokon gesponnen, aus dem es kein Entrinnen gibt.
"I don't know what I've done to deserve you", singt eine verzweifelte Beth Gibbons in "Nylon smile", einem der unauffälligeren Songs des Albums, dessen kristalline Schönheit zwischen den vielen dominanten Passagen des Albums fast verloren geht, doch letztlich stimmt die Dramaturgie des gesamten Albums ebenso wie jeder einzelne Song. "The rip" gilt in dieser Hinsicht bereits vielen als Favorit: Auch er beginnt als leise Folkweise mit Gesang und Akustikgitarre, bis schließlich Drums und Keyboards dazu kommen, das Tempo angezogen und Gibbons' Sirenengesang ins Unendliche erweitert wird, schließlich so etwas wie Elektropop zu entstehen scheint - und unversehens ausgeblendet wird, um Platz zu machen für das apokalyptisch dissonante "Plastic", in dem Beth Gibbons mit einem Wall aus Lärm konkurrieren muss, der wie die Rotorblätter eines Helikopters klingt.
Die unheimliche Größe von "Third" wird auch dadurch deutlich, dass der Höhepunkt zu diesem Zeitpunkt - in der Mitte des Albums - noch gar nicht erreicht wurde. Der wird zunächst mit "We carry on" eingeleitet. Bedrohlich stampfende Beats, ein stoisch wiederholter Synthie-Loop, ein mörderisches Tempo, und dann wiederum Beth Gibbons, gefühlte zwei Oktaven über Normal, beschwörend und von unvergleichlicher, hypnotischer Intensität. Schließlich setzt eine E-Gitarre ein, dröhnend und hektisch pulsierend. Nach fünf Minuten bleibt man erschöpft zurück, atemlos und entrückt, weil es ist, als ob man von dieser Musik einfach überrollt wurde.
So nimmt man den folgenden Song, "Deep water", vielleicht erst beim wiederholten Hören bewusster wahr. Die Akustikballade, in der Gibbons zur Ukulele singt und von einem Männerchor im Barbershop-Stil der 20er Jahre begleitet wird, ist fast der ironische Kontrapunkt zwischen dem avantgardistischen Sound von "We carry on" und dem nun folgenden "Machine gun", der ersten Singleauskopplung, in der sämtliche Empfindungen des Albums nochmals verdichtet werden. Hier herrscht Endzeitstimmung, alles ist schneidend kalt, anorganisch und unwirtlich, Störfeuer allenthalben, man meint den Film, der diesen Song bebildern könnte, bereits vor sich zu sehen - es sind Bilder von Krieg, brutaler Härte, Ausweglosigkeit und Zerstörung, die vor dem geistigen Auge entstehen.
Keine einzige Minute auf "Third" bleibt man unberührt, und am Ende, wenn "Threads" mit durch Mark und Bein gehendes Sirenengeheuel beendet ist, kehrt mit dem Respekt auch die Gewissheit zurück, ein Album entdeckt, mehr noch: erlebt zu haben, wie es Seinesgleichen sucht. Die Band hat die musikalische Entwicklung der letzten Jahre konsequent ausgeblendet, nichts und niemand, von dem sie offenkundig beeinflusst wären. Im Gegenteil: Mit "Third" geben Portishead ihrerseits eine neue Richtung vor, die nicht Triphop und nicht Postrock ist, sondern ein eigener, singulärer Standard.
So ist man schließlich erschlagen, aber stolz, diesen Berg erklommen zu haben. Von seinem Gipfel aus wirkt der Horizont größer, die Welt zwar nicht verständlicher, aber klarer und besser erträglich, und schließlich erkennt man: Weit und breit ist kein zweiter Berg in Sicht, dessen Höhe sich auch nur annähernd mit "Third" messen lassen könnte.