Die Band aus Lyon ist das Kontrastprogramm zu den säuselnden Chanteusen des Neo-Chanson. Der Sound von Le Peuple de l'Herbe ist hart, dunkel, schroff, kraftvoll und überhaupt nicht anmutig. Nach "Radio Blood Money" (2007), das eine Science Fiction-Geschichte erzählte, steht auf "Tilt" wieder die Musik als Konzept im Vordergrund, und deren Bandbreite ist enorm. Sie reicht von Electronica über Triphop, Dub, Trance, Drums&Bass über Film-Soundtracks bis zum Hiphop und Mariachibläsern. In "L'esprit d'une epoque" - der Geist einer Epoche - passiert all das sogar auf einmal - eine geniale Umsetzung des Songtitels.
Es ist ein Füllhorn aktueller Sounds, die Le Peuple de l'Herbe hier ausschütten, ohne dabei der Beliebigkeit anheim zu fallen. Es ist ein wenig wie bei Peter Fox' "Stadtaffe": Die Sounds sind dermaßen perfekt miteinander kombiniert und ineinander verwoben, dass jede kühle Analyse unmöglich wird: Man wird mitgerissen von diesem gewaltigen Strom musikalischer Ideen.
Der Spielautomat auf der Rückseite des Covers dient hier vielleicht als Hinweis auf Tokyos Patchinko-Hallen, wo in grellstem Licht und ohrenbetäubendem Lärm alle Arten von Automatenspiele angeboten werden. "In the hell of Patchinko" nannten schon Mano Negra einst ihr in Kawasaki aufgenommenes Live-Album - und Le Peuple de l'Herbe setzen die anarchischen Klangkonzepte des Pariser Kollektivs um Manu Chao um - allerdings mit den Mitteln des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, in dem nicht mehr das Multikultileben europäischer Metropolen Gegenstand der Musik ist, sondern die Auflösung sämtlicher Milieus und das Entstehen einer grenzenlosen, dadurch auch unübersichtlichen, durch das digitale Zeitalter und die globale Kommunikation gekennzeichneten Welt.
"L'esprit d'une epoque" wird, betrachtet man es aus dieser Perspektive, zum Abgesang eines vergangenen Zeitalters, während die weiteren Stücke auf "Tilt", computerlastig, klirrend kalt und elektronisch wie "Swamp", in die neue Ära verweisen. Die drohende Apokalypse schwingt in dem Soundtrack dieser neuen Epoche immer mit, die sich selbst noch den Widerspruch zueigen macht, dass sich hervorragend zu ihr tanzen lässt. Doch es steht zu befürchten, dass die Welt im Unterschied zum Album-Cover keinen "Tilt"-Button hat, mit dem sich das beschworene Ende verhindern ließe - oder dass sich jedenfalls keine Politiker finden, die ihn drücken würden, wahrscheinlich noch nicht einmal Obama, dem das Quartett in "Look up!" seine Referenz erweist.
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Michael Frost, 24.01.2010