Dass
Dino Saluzzi "der einzige namhafte Bandoneonspieler des Jazz"
sei, wie in Reclams Jazz-Lexikon (2003) behauptet, wird man spätestens
dann nicht mehr sagen, wenn sich der Name Klaus Paier herumgesprochen
hat. Gemeinsam mit dem Bassisten Stefan Gfrerrer und dem Schlagzeuger
Roman Werni hat der junge österreichische Musiker und Komponist
gerade eine Europa-Tour beendet, die das Trio innerhalb von zwei Monaten
zwischen Zagreb, Wien, Paris und Berlin in 35 Jazz-Clubs und Konzertsäle
geführt hat.
Es
ist nicht Klaus Paiers erste Tournee, und sein Trio ist nur eins von
mehreren Projekten, die er nach dem Studium in Klagenfurt (Akkordeon,
Jazz und Komposition) seit 1993 verfolgt. Zeitgleich zur großen
Reise hat Paier mit seiner Trio-Formation ein Album veröffentlicht,
dessen spanischer Titel "Tiempo" möglicherweise falsche
Erwartungen weckt. "Tiempo" verweist auf die lateinamerikanischen
Wurzeln des Bandoneonspiels, aber Vorsicht: Klaus Paier ist kein jüngerer
Bruder des großen Dino Saluzzi, obgleich er durch ihn dieses
Instrument für sich entdeckt hatte.
Die
tiefe Wehmut, die der Argentinier kultiviert, macht er sich nicht
zu eigen. Der Tonfall seiner Kompositionen - Paier hat alle 13 Stücke
des Albums selber geschrieben - ist kühler und vielleicht auch
sperriger. Schon beim ersten Hören wird deutlich: Dieser Komponist
nimmt dem Instrument alles folkloristisch Pittoreske und damit alle
Sentimentalität. In seine Musik geht die genaue Kenntnis der
Formensprache europäischer Klassik ein, aber auch wo er Volksmusik
zitiert ("Metro", "Turkish", "Tango Nuevo"),
ist ihr der fokloristische Touch fast völlig entzogen. Das heißt
nicht, dass hier einer blutleere Musik macht.
Seine
Vorliebe für kurz angerissene und kürzelhafte musikalische
Patterns wird von dem ausdifferenzierten und manchmal überbordenden
Schlagzeugspiel Roman Wernis unterstrichen. Klaus Paier setzt auf
Tempo (auch das steckt im Albumtitel) sowie auf den überraschenden
und eleganten Wechsel der Klangbilder. Da kann das Bandoneon - bzw.
das Akkordeon - in breiten Akkordflächen zur Orgel werden, da
werden Kirchenmusikformen - Fuge und Choral - zitiert, da wechselt
die Stimmung vom heiter Tänzerischen ("Metro") zur
Ernsthaftigkeit eines durchkomponierten Stücks neuer Musik.
Klaus
Paier sagt es so: "Ich möchte eine positiv besetzte Polarität
zum Ausdruck bringen: Anziehendes und Abweisendes, Leichtes und Schweres,
Lautes und Leises, Offenes und in sich Geschlossenes". Dabei
legt er Wert auf Ensemble-Arbeit. Nicht das Bandoneonspiel steht im
Mittelpunkt, sondern die gleichwertige Textur eines Trios. Wenn Bassist
Stefan Gfrerrer sein Instrument zum transparenten Ton des Bandoneons
streicht statt zupft, dann entsteht eine ausgesprochen ungewöhnliche
und klangschöne musikalische Färbung.
Wie
in diesen ausgefeilten Kompositionen lateinamerikanische und europäische
Einflüsse verbunden werden, das ist kein diffuses Cross-Over-Spiel,
es hat einen unverkennbar eigenen, ebenso suggestiven wie souveränen
Charakter. "Im Jazz und Tango habe ich die Freiheit gefunden,
meine eigene musikalische Sprache zu entwickeln", sagt Klaus
Paier.
Seine
eigene Sprache geht über Jazz und Tango hinaus, wenn auch der
Jazz das Grundgerüst abgibt und der Tango die scharfen Rhythmen
vorgibt. Der Komponist geht weiter, und man darf annehmen, dass der
Musiker Klaus Paier nicht nur als Virtuose des Bandoneon, sondern
mindestens ebenso sehr als gewichtiger zeitgenössischer Komponist
ins Lexikon Einzug halten wird.
© Hans Happel, November 2005