Thou shalt tread upon the lion and adder:
the young lion and the dragon shalt thou trample under feet"
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(Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen
und Drachen niedertreten.)
Diese
Verse aus Psalm 91 standen bereits im Booklet zu Sinéad O'Connors
erster CD von 1988, "The Lion and the Cobra" (Cobra ersetzt
in der modernen Übersetzung das Wort 'Adder' aus der alten King
James Bibel). Nun taucht der vollständige Text des Psalms auch
im Titel ihres womöglich letzten Albums auf. "She who dwells
in the secret place of the most high will abide under the shadow of
the Almighty", so der Psalmbeginn in einer 'feminisierten' Sprachfassung,
steht als Überschrift auf dem Cover: "Sie, die unter dem
Schutz des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen
bleibt."
Sinéad
O'Connor, von ihr selbst im Frühjahr 2003 verkündet, will
keine Musik mehr machen. Sie möchte auf der Straße nicht
angesprochen werden, keine öffentliche Person mehr sein. Gebuchte
Auftritte mit Massive Attack, auf deren aktueller Platte sie zu hören
ist, sagte sie ab, und ihre Website sollte im September vom Netz gehen.
"She who dwells" ist also der letzte Gruß der religiösen
Irin an ihre Fans, begleitet von einer bereits erschienen Live-DVD:
"Goodnight, thankyou. You've been a lovely audience".
Auch
die Doppel-CD "She who dwells" enthält einen Mitschnitt
dieses Konzerts, das 2002 in Sinéad O'Connors Heimat Dublin
aufgenommen wurde. Von Rückzug gab es damals keine Spur. Zu hören
ist eine überraschend gelöste, gewohnt stimmgewaltige und
hoch konzentrierte Sängerin, die in Begleitung von irischen Fiedeln,
Trommeln und Akkordeon einige ihrer schönsten Lieder neu interpretierte:
"Fire on Babylon", "Nothing compares 2 U", "The
last day of our Acquaintance" - und natürlich die irischen
Folk-Standards ihres jüngsten Studiowerks "Sean-Nós
Nua", darunter gleich zu Beginn das traurig-schöne "Molly
Malone", oder "Paddy's Lament" und "The Moorlogh
Shore".
Angekündigt
wird der Live-Mitschnitt als Bonus-CD. In der Hauptsache enthält
"She who dwells" nämlich auf der ersten CD neuzehn
Titel, darunter fünf neue, zahlreiche Demo-Fassungen, einige
ihrer zahlreichen Kooperationen mit anderen Musikern (darunter u.a.
Asian Dub Foundation, B52s, Massive Attack, Adrian Sherwood) und -
als vielleicht größte Überraschung - die bislang unveröffentlichte
Cover-Version des Abba-Hits "Chiquitita".
Zusammen
mit der mitreißenden Performance der Live-Aufnahme bilden die
Raritäten der ersten CD somit einen würdigen, wenn auch
schmerzlichen Abschied. Sinéad O'Connors grandiose und einzigartige
Stimme, aber auch ihre leidenschaftliche Wut, selbst ihre Irrwege
und Obsessionen, das gelegentlich überzogene Pathos, das 1:1-Format,
in dem sie ihre Gefühlswelt in ihre Musik übertrug, all
diese unverwechselbaren Merkmale werden in der Popwelt fehlen. Aber
wer weiß. Mit der ihr eigenen Unberechenbarkeit könnte
Sinéad O'Connor eines Tages doch noch den Rücktritt vom
Rücktritt erklären - wenn Löwe und Kobra besiegt sind.
©
Michael Frost, 10. September 2003