Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden: "Borders are ment to be crossed." Julia A. Noack wählt eine fast programmatische Zeile zur Eröffnung ihres Albums "69.9". Die Zahl, so die Komponistin, Texterin und Interpretin in den Linernotes, stehe symbolisch für eine willkürliche, fiktive Grenze: "Was passiert, wenn die Ziffern umspringen?"
Julia A. Noack liebt das Ungesagte. Ihre Lieder fordern die Assoziationsfähigkeit ihrer Zuhörer heraus. "Me & The A.D.", sagt sie, habe alles, was ein Song brauche: "Rätselhafte Abkürzungen, eine Tuba, ein Banjo und einen Feuerwehrchor". Auch das "A" in ihrem Namen gibt Rätsel auf, und so soll es wohl auch bleiben. Ebenso offen lässt die Künstlerin ihre Einflüsse: "69.9" ist einerseits ein "Singer/Songwriter"-Album, andererseits bedient es sich einigermaßen ungeniert in Folk, Blues, Pop und auch Rock, dann und wann sogar nach digitalen Samples.
So wird aus "69.9" mehr als nur die Songsammlung einer introvertierten Liedermacherin mit Klampfe, sondern das berührende Album einer vielseitigen Künstlerin mit sensiblem Gespür für Melodie, Stimmführung und die Atmosphäre eines Songs. "Redefine" steht für ihre Liebe zum Detail. Ein wunderschön fließender Gitarrenlauf, eine hintersinnige Geschichte, erzählt mit einem Timbre, das an Suzanne Vega erinnert und im Hintergrund eine Erinnerung an das Knarren alter Schiffsplanken, wie sie im vergangenen Jahr das Album des Sigur Rós-Sängers Jónsi und seinem Partner Alex Somers beschlossen.
Doch hier ist nicht ein verträumter Isländer unterwegs, sondern eine junge Frau aus Mönchengladbach, die nach einigen Umwegen, u.a. über die USA, den Weg nach Berlin fand. Dort lebt und arbeitet sie inzwischen, inmitten eines kreativen Umfelds, zu dem unter anderem auch die hier bereits vorgestellte K.C. McKanzie gehört. Auf "69.9" ist sie am Banjo zu hören.
Handfest, mit erdig-robustem Sound und ohne jede rührselige Sentimentalität setzt Julia A. Noack ihre Songideen um - und überschreitet auch hier eine Grenze, und zwar die zur internationalen Songwriterinnen-Szene. Auch wenn sie darüber sinniert, dass Grenzen durchaus ihren Sinn haben, Angst vor der "Selbstauflösung" durch allzu große Annäherung an andere, wie sie in den Linernotes zum Opener "Undue merging" schreibt, muss sie dabei keineswegs haben - individuelle Identität und Wiedererkennungswert der Künstlerin stehen außer Frage.
©
Michael Frost, 15.05.2010