Für Antonio Carlos Jobim, der vor 50 Jahren die Bossanova "erfand", war er der einzige Sänger, der seine Lieder in der Originaltonart interpretieren kann: Milton Nascimento. Tatsächlich muss man ungewöhnlich hohe Tonarten meistern, um exakt die leichte, melancholische Stimmung zu erreichen, die Jobim und Joao Gilberto in ihren Liedern so unnachahmlich ausdrückten. Milton Nascimento nahm die Herausforderung an. Gemeinsam mit dem "Jobim Trio", bestehend aus Paulo (Gitarre) und Daniel Jobim (Piano), Sohn und Enkel des Großmeisters, sowie Schlagzeuger Paul Braga, spielte er einige der bekanntesten Bossanova-Kompositionen neu ein und ergänzte sie um eigenes Material. So finden sich auf "Nova Bossas" Klassiker wie "Chega de saudade" ebenso wieder wie "Cais" (Nascimento) oder "Dias azuis" (Daniel Jobim).
Nascimento und das Jobim Trio haben einerseits den Anspruch, die Lieder in ihrer ursprünglichen Form wiederzugeben, dafür steht vor allem Nascimentos Gesang, doch dabei wollen sie auf eine zeitgemäße Einfärbung nicht verzichten. Sie lösen den vermeintlichen Widerspruch, indem sie den Jazz-Anteil der Bossanova hervorheben, sehr vorsichtig und nicht zu Lasten des typischen Rhythmus', aber so deutlich, dass jedes Instrument - wie auch der Gesang - sich ein Eigenleben bewahrt, variiert und improvisiert, dann wieder zurück in das Ensemble findet: lebendig, virtuos und elektrisierend.
Diese Attribute treffen auch auf eine weitere Aufnahme Nascimentos zu, die nahezu parallel erscheint und ihn selbst zum Thema hat. Stephane und Lionel Belmondo, ein hoch gelobtes Musiker-Bruderpaar aus Paris, wollte die Lieder Nascimentos neu bearbeiten und einspielen. Die beiden sind für ihre experimentellen Bearbeitungen bekannt: In den vergangenen Jahren hatten sie die Musik klassischer Komponisten wie Maurice Ravel in den Jazz übertragen. Milton Nascimento selbst ließ es sich nicht nehmen, an den Aufnahmen der Brüder Belmondo teilzunehmen und seine Lieder nach ihren Vorgaben neu einzusingen.
So entstand gemeinsam mit Andre Ceccarelli am Schlagzeug, Pianist Eric Legnini und dem Streicherensemble des Paris National Orchestra eine spannende Aufnahme, die Genregrenzen gezielt übertritt: Wo Bossanova war, entsteht fast sakrale Kirchenmusik, aus Jazz wird Klassik und umgekehrt - Stephane und Lionel Belmondo kehren das Innerste der Vorlagen nach außen, drehen, wenden, wägen ab und erschaffen Neues. "Eine Kathedrale aus Musik" sei das Ergebnis, in der seine Stimme schwerelos vibrierte, berichtet ein faszinierter Milton Nascimento, der nunmehr mit zwei sehr unterschiedlichen, in ihrem künstlerischen Anspruch, ihrer Musikalität und visionären Umsetzung jedoch gleichermaßen herausragenden Alben den Weg für die nächsten fünfzig Jahre Bossanova legt.
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Michael Frost, 16.08.2008