Das
erste Studio-Album seit vier Jahren (abgesehen vom Soundtrack zum
Zeichentrickfilm "Momo"): Gianna Nannini hat auf sich warten
lassen. Doch ihre Rückkehr inszeniert sie als Paukenschlag, denn
"Aria" scheint vor überbordender Energie und unbeherrschbarer
Lautstärke regelrecht zu explodieren. Schneller, lauter, deutlicher:
es kracht und krächzt und dröhnt und donnert - fast erschlagend
wirken die Arrangements manchmal, die Produzent Armand Volker und
Soundtüftler Christian Lohr den dreizehn "Aria"-Songs
verpassten und damit das Motto des Albums vorgaben: "Aria"
- Frische Luft.
Unüblich
für den sonst sehr handgemachten und bodenständigen Poprock-Sound
der Nannini sind die tragenden Instrumente auf "Aria" Computer
und Vocoder, obwohl gelegentlich eine Gitarre, ein Schlagzeug, auch
eine Mandoline oder Flöten zu hören sind. Doch umstandslos
weren sie von dem bombastischen Soundgetöse vereinnahmt und verschluckt.
Musik
muss Lärm machen, soll Gianna Nannini, die promovierte Philosophin,
in ihrer Doktorarbeit geschrieben haben. Glücklicherweise fanden
dennoch auch leisere Stücke wie "Sveglia" (Wach auf)
den Weg auf das Album, weil sie den Vorzug haben, dass man Gianna
Nannini in der ruhigeren Umgebung, ihrem Gesang, ihrer Aura, ihren
Texten besser auf die Spur kommen kann. Und überraschend ist
festzustellen, dass "Aria" doch gar nicht so anders ist
als die bisherigen Alben der Italienerin: Man entdeckt Verwandtschaften
zwischen den melodischen Strukturen, gelegentliches Ohrwurmpotenzial,
das Erinnerungen an ihre großen Hits weckt.
Fast
meint man, Volker und Lohr hätten sich der neuen Kompositionen
bemächtigt, um sie zu zerlegen und sie schließlich mit
den Mitteln der Electronica völlig neu zusammenzusetzen, gleich
einem Akt der Dekonstruktion, und man erfährt: So klingt eine
im Computerzeitalter angekommene Gianna Nannini.
"Aria"
wird die Fans irritieren. Doch man nimmt Gianna Nannini ohne Weiteres
ab, dass es ihr nicht um eine oberflächliche Aufholjagd Richtung
Zeitgeist geht. Und auch, wenn "Aria" zunächst verstört
und viele Fragen aufwirft, ist Gianna Nannini zuzugestehen, dass ihr
ein atmosphärisch stimmiges, kohärentes Album gelungen ist,
das herausfordert und die Sinne schärft. Keine Hintergrundmusik
für das Pasta-Dinner mit der Toscana-Fraktion, sondern sehr gegenwärtig,
drängend und aufwühlend. Dazu tragen auch die Texte bei,
mal symbolhaft, mal direkt, eine Koproduktion von Gianna Nannini und
der Autorin Isabella Santacroce. Nicht ganz zu Unrecht nennen sie
das Ergebnis eine Mischung aus "Slam Poetry und Klangmalerei",
oft seien die Texte nicht schriftlich, sondern direkt in der mündlichen
Auseinandersetzung entstanden und sofort mit dem Mikrophon zur Musik
ausprobiert worden.
Schließlich:
"Aria" ist der gelungene Überraschungscoup einer Musikerin,
die beweist, dass auch im dritten Jahrzehnt ihrer Karriere - zumal
übrigens im eigenen Land - kein Weg an ihr vorbei führt.
Michael
Frost, 27. September 2002