Ungeschminkt.
Natürlich. nachdenklich, aber erkennbar selbstbewusst. So erscheint
Natalie Merchant auf dem Cover ihres neuen Albums "The House Carpenter's
Daughter". Sie selbst könnte diese Tochter sein, lernte sie
den Folksong "House Carpenter" doch in der Version der blinden
Sängerin und Gitarristin Annie Watson kennen und lieben. Heute
singt sie das Stück selbst, neben zehn weiteren Perlen US-amerikanischer
Folk-Geschichte.
Zweifellos:
es sind Lieder des "anderen" Amerika, die Natalie Merchant
für ihr persönliches "American Songbook" auswählte.
Lieder der kleinen Leute, die von Armut und vom Überleben erzählen,
und manchmal auch vom Aufbegehren: "Which Side are You on?"
könnte die programmatische Frage zur bevorstehenden Präsidentenwahl
sein, aber enstand der Song bereits 1932. Florence Reece, Ehefrau
eines Gewerkschaftsführers aus Kentucky, schrieb den Text zu
einem traditionellen Gospel auf einem Küchenzettel nieder. Sie
wollte damit den Kampf der Minenarbeiter unterstützen, die sich
in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Mineneignern und
ihrem Sicherheitsdienst befanden.
Natalie
Merchant erzählt diese und andere Hintergründe zu den elf
Songs im liebevoll gestalteten Booklet. Die ehemalige Frontfrau der
"10000 Maniacs" geht einfühlsam und voller Behutsamkeit
mit dem Originalmaterial vor, und doch gelingt es ihr, die Stücke
wie eigene Kompositionen klingen zu lassen. Es sei schade, sagt sie
im Einführungstext zu "The House Carpenter's Daughter",
dass man sich so weit von diesen Liedern entfernt habe, die einen
Menschen früher durch sein ganzes Leben begleiteten und von Generation
zu Generation weitergegeben wurden.
"As
thoroughly modern people, we wonder how the archaic tales of shipwrecks,
fair or fallen ladies, buried treasure, the lonely sojourns of pilgrims,
or the trials of tenant farmers could speak to us about our world."
Das
gemeinsame Singen alter Lieder wird heute durch die Massenmedien und
ihre vorgefertigten Programme ersetzt. Die Entscheidung, was wir hören,
treffen somit andere. Das weiß auch Natalie Merchant, und vielleicht
ist genau diese Erkenntnis der Grund, weshalb sie ihre Zusammenarbeit
mit einem Majorlabel nicht verlängerte und statt dessen ihren
eigenen Plattenverlag gründete.
Vielleicht, und das wäre durchaus zu hoffen, wird sogar ein Trend
daraus. Natalie Merchant jedenfalls erhebt ihre Songs zum Plädoyer
für die Selbst-Besinnung. Sie ist fest davon überzeugt,
dass wir von ihren Liedern lernen können, was wir im Grunde unseres
Herzens längst wissen - bislang aber nicht zugeben mochten. Somit
fänden wir dann alle zu uns selbst: ungeschminkt, natürlich,
nachdenklich, aber mit deutlich gesteigertem (Selbst-)Bewusstsein.
©
Michael Frost, 28. März 2004