Als
der Pianist Brad Mehldau 1999 sein Solo-Album Elegiac Cycle
veröffentlichte, wurde er geradezu hymnisch gefeiert.
Der Versuch des damals gerade 29-jährigen Jazz-Musikers,
an die romantische Klaviermusik des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen,
hatte einen dichten und eleganten Zyklus von Eigenkompositionen
hervorgebracht, die Studio-Produktion wirkte wie ein Quantensprung
in der Entwicklung des Jazz-Piano-Spiels.
Das
Album blieb ein Solitär, Mehldau kehrte zu seinem erfolgreichen
Trio zurück - zu seinen Partnern Larry Grenadier am Bass
und Jorge Rossy, Schlagzeug, mit denen er unter dem unverschämt
selbstbewussten Titel The Art Of Trio inzwischen fünf
CDs produziert hat.
Weniger
glücklich versuchte er sich nebenbei in seichteren Pop-Gewässern
("Largo"). Sein neues Solo-Album aber ist ein großer
Wurf, obwohl - oder weil - sich Brad Mehldau vom elegischen
Schmelz, vom pastos-grazilen Stil des ersten Solo-Projekts
abwendet: Etwas ungewöhnlich Nacktes spricht aus den
sieben Stücken dieser Live-Einspielung, die im Februar
2003 bei einem Konzert in der Sumida Triphony Hall in Tokio
aufgenommen wurde, und die jetzt unter dem Titel Live In Tokyo
bei dem New Yorker Label Nonesuch Records erschienen ist,
zu dem Brad Mehldau - von Warner Brothers - gewechselt hat.
Er
spielt hier keine Eigenkompositionen, sondern verbindet in
seinem Repertoire das beginnende mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert.
Da werden Klassiker des Great American Songbook (George und
Ira Gershwin: Someone to watch over me, How long has this
been going on, Cole Porter: From this moment on) eingerahmt
von Mehldaus Favoriten des Folk-Rock-Kanons, dem früh
verstorbenen, düsteren Songwriter Nick Drake und den
Rock-Poeten von Radiohead.
Es
ist ein reflektierendes und reflektiertes Spiel, mit dem der
Pianist sein Material aufblättert, als lege er es unter
ein Vergrößerungsglas. Die Befragung des musikalischen
Materials mag beim ersten Hören befremden, denn sie klingt
zunächst nackt und zurückgenommen spröde. Dieser
Pianist will nicht gefällig parlieren oder opulent brillieren,
seine Virtuosität offenbart und verbirgt er in einer
radikalen Schlichtheit, die im gebremsten Tempo, in den leisen
Anfangs- und den kurz gehaltenen Schlusspartien seiner Stücke
zum Programm werden.
Mehldau
zwingt zum genauen Hinhören, und wer sich darauf einlässt,
wird allmählich so gefesselt werden wie das Publikum
in Tokio, das den Beifall am Ende der Stücke mit begeisterten
Jauchzern mischt. Warum? Vielleicht deshalb: Mehldau behandelt
die Stücke von Gershwin und Cole Porter, von Nick Drake
und Radiohead nicht nur als vollkommen gleichrangig, sondern
er spielt sie so genau und kultiviert, mit einem geradezu
heiligen Ernst, als handle es sich um Präludien von Chopin.
Eine
besondere Überraschung im Zentrum des Live-Albums ist
seine Interpretation von "Monks Dream", denn hier
verrät Mehldau, wie sehr er von Thelonious Monks harten
Dissonanzen und rhythmischen Verschiebungen beeinflusst ist.
Dies ist seine andere Seite, mit der er die romantische Liebe
zur Melodie immer wieder bändigt.
Die
lebt er ungeniert aus in seiner 20-minütigen Version
des Radiohead-Klassikers Paranoid-Android. Mehldau übersetzt
das mehrteilige Original - mit seinem nicht enden wollenden
Melodienfluss, dem suggestiven Choral-Part und den harten
Gitarrenriffs - in ein kongeniales Werk für Pianosolo.
Dabei benötigt er die dreifache Zeit, um die harmonische
und melodische Struktur dieses vielschichtigen Songs in aller
Genauigkeit vorzuführen.
Zur
Genauigkeit gehört der jederzeit spürbare Wärmestrom
im Spiel des Pianisten, der das Album nicht zufällig
mit einem Titel von Nick Drake beendet: Das schmerzhaft melancholische
River Man gilt als Mehldaus "persönliche Erkennungsmelodie"
und der dunkle Ausklang dieses wie eine klassische Komposition
des 19. Jahrhunderts behandelten Liedes hat etwas tief Beunruhigendes.
Der
britische Komponist, Gitarrist und Sänger Nick Drake
war 26 Jahre alt, als er im November 1974 an einer Überdosis
Antidepressiva starb. Zeit seines Lebens verkannt, wird er
seit einigen Jahren zum verlorenen Romantiker stilisiert,
dem Brad Mehldau mit den beiden Ecktiteln seines Albums eine
ergreifende Hommage gewidmet hat.
LIVE
IN TOKYO verlangt eine Einhörzeit, um dann umso länger
nachzuwirken. Das ist die Kunst des hörbar gereiften
Pianisten, der seine Wurzeln im Jazz, in der Rockmusik und
im 19. Jahrhundert sucht und aus diesem Amalgam etwas Eigenes
gewinnen will. Mag sein, dass das neue Album - weit mehr als
Elegiac Cycle - eines Tages als Meilenstein gewertet wird.
©
Hans Happel, 21. November 2004