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Nicht das
Trennende zählt


Um es gleich zu sagen: Dieses Album ist für alle Freunde der Weltmusik eine Delikatesse. Einzige Bedingung: Seien sie nicht konservativ. Denn hier wird nicht die Tradition zementiert, sondern es geschieht das genaue Gegenteil - Gewohnheiten und alte Harmonien werden gebrochen, in Frage gestellt, dekonstruiert, variiert, in neue Formen gegossen und mit anderen Inhalten gefüllt.

Doch der Reihe nach: "Descarga" bezeichnet im Latin-Jargon ein Jam-Session, und exakt eine solche fand im Sommer 2005 in New York statt. Dort trafen sich der 77-jährige Maurice el Médioni und Roberto Rodriguez mit einem ehrgeizigen Ziell: Einige Kompositionen von el Médioni, Meister des orientalischen Klaviers, sollten gemeinsam mit dem aus Kuba stammenden Rodriguez mit lateinamerikanischer Rhythmik zusammen gebracht werden.

Was ungewöhnlich klingt, macht durchaus Sinn: Wer sich mit dem Raï, der Popmusik Nordafrikas, genauer beschäftigt, wird seine Nähe zu karibischen Klängen, u.a. auch zum Reggae kaum negieren können - Tempo und Temperament sind verwandt, und schließlich ist auch der Reggae afrikanischen Ursprungs.

Und so entfacht das latino-arabische Duo Rodriguez/Médioni ein multi-kulturelles Rhythmus-Feuerwerk aus Raï, Son, Salsa und Latin-Jazz, das mal elegant und elegisch, dann in explosiven und exaltierten Farben aufleuchtet.

Dabei steht der wohl schönste Titel des Albums gleich am Beginn: er heißt "Oran, Oran" und ist eine von Médioni selbst gesungene Hommage an seine Heimatstadt. In der algerischen Hafenstadt wurde er 1931 als Sohn jüdischer Eltern geboren, und in Oran begann er seine Musikerkarriere, als sein Bruder ein altes Klavier vom Flohmarkt mitbrachte; da war Maurice el Médioni gerade einmal neun Jahre alt.

Vielleicht ist es die Erfahrung des Lebens in der Diaspora, die seinen Blick über den kulturellen Tellerrand schärfte. "Descarga oriental" mit seinen kubanischen Sounds ist nämlich nurmehr eine Etappe der musikalischen Weltreise, die el Medioni als "Never-ending-Tour" zurücklegte. Insbesondere die Tradition Andalusiens faszinierte ihn: Dort nämlich, Im Königreich Granada, lebten bis zur Reconquista im ausgehenden 15. Jahrhundert die großen Religionen, also Juden, Christen und Moslems friedlich miteinander. Und mehr noch: "Die jüdisch-spanische Musik, die unsere Vorfahren in Spanien vor ihrer Vertreibung im 15. Jahrhundert spielten, hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit bestimmten Spielweisen der Zigeuner. Wir haben diese Musik mitgenommen, und sie wird heute noch in der Türkei gespielt."

Durch seine Zusammenarbeit mit Roberto Rodriguez hat El Médioni den Stammbaum seiner musikalischen Familie nochmals nachvollziehbar erweitern können. Die Begeisterung über diesen Zuwachs schwingt in jeder Note seiner Musik mit. Und darüber hinaus wird sie Trägerin einer weit reichenden Botschaft: Denn wer solche Parallelen und Verwandtschaften nachweist, entzieht allen Nationalisten und Fundamentalisten den Nährboden. Seine Botschaft lautet: Nicht das Trennende ist bedeutend, sondern die Gemeinsamkeit.

© Michael Frost, 12.03.2006

 


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