Ein
Meister in Sachen Zeitreisen war Udo Lindenberg immer. Schon auf den
Platten der 70-er Jahre liebäugelt er mit den Hits der 20-er und
30-er Jahre. Seine rockige Version des von Marlene Dietrich gesungenen
Friedrich Hollaender Chansons "Ich bin von Kopf bis Fuß auf
Liebe eingestellt" gehörte 1974 zum Markenzeichen seines Johnny-Controlletti-Nostalgie-
Clubs.
Im
Jahr 2002 will der alt gewordene Panik-Barde nicht mehr nostalgisch
sein. Aber er will noch einmal das Liedgut aus jenen Zeiten retten,
als Berlin noch eine echte Großstadt war und die Nazis sie noch
nicht zur dumpf-teutonischen Hauptstadt ihres tausendjährigen
Reiches gemacht hatten. "Atlantic Affairs" heißt das
anspruchsvolle Projekt, ein Bündel aus Rock-Revue, Fernsehfilm
und CD zugleich. Die Revue hatte am 5. Mai im Stadttheater Bremerhaven
Premiere, die CD ist wenige Wochen später erschienen, der Film
von Hark Bohm ("Nordsee ist Mordsee") soll im Herbst ausgestrahlt
werden. Vorweg gesagt: "Atlantic Affairs" als CD ist eine
glatte Enttäuschung.
Lindenberg will die schönen, scharfen Lieder der aus Deutschland
vertriebenen Künstler zurückholen und für die Gegenwart
retten, indem er sie - laut Presseheft - "im Stil von heute,
im Groove von Jetzt" präsentiert. Dazu versammelt er einige
alte Kumpel des Panikorchesters, mit denen er schon Anfang der 80-er
auf Reisen gegangen ist: Jean-Jaques Kravetz als "Musical Director"
begleitet ihn auf dem Keyboard, Bertram Engel sitzt hinter den Drums,
Steffi Stephan spielt Bass, Hannes Bauer Gitarre. Daneben Leute aus
der jüngeren Generation, die mehr mit den Kids von heute zu tun
haben: Die "Prinzen", der Chanson-Star Tim Fischer, die
singende Schauspielerin Ellen ten Damme, die Nachwuchssängerin
Yvonne Catterfeld ("Gute Zeiten, schlechte Zeiten") und
Udos derzeitige Duettpartnerin Nathalie Dorra. Viel Aufwand, aber
wenig Aufregendes.
Lindenberg hatte das vor 15 Jahren viel besser gekonnt: Auf seiner
LP "Hermine" (1988) singt er Chansons von Theo Mackeben
("So oder so ist das Leben"), Friedrich Hollaender ("Wenn
ich mir was wünschen dürfte"), Erich Kästner ("Sachliche
Romanze"). Marlene Dietrich sprach ihm in ihrer Pariser Wohnung
mit zitternder Altersstimme - anrührend - Verse aufs Band ("Träume
sind schön, solang sie unvollfüllbar sind"), die kammermusikalischen
Arrangements mit Klavier, Akkordeon, Geige, Bläsern sind swingend,
stimmig und geschmeidig. Sie verletzten das musikalische Material
nicht. "Jetzt höre ich Udo Lindenberg mit der Stimme des
Nachgeborenen die Lieder der jüdischen Großstadtkultur
nach/neu singen" schrieb ihm Heiner Müller auf die Plattenhülle.
Und ergänzt: "Das Nachsingen zeigt die Zerstörung,
das Neusingen schafft eine Kontinuität, in der das Gedächtnis
an die Zerstörung lebt." Klar, so große und politisch
korrekte Worte sind nicht mehr gefragt. Heute heißt es stattdessen
im geschwätzigen Plauderton: "Songs zwischen Punk und Panik,
Diva und Drama" würden "vom konventionellen Vibrato-Geleier
befreit". Das ist großspurig, denn von Befreiung kann keine
Rede sein.
Lindenberg
beweist (nebenbei), dass er den musikalischen Trend der Zeit verschlafen
hat. Sein Eingangssong von den "Stars, die niemals untergehen"
ist der typische Udo-Stil und -klang, den er auch vor 30 Jahren schon
gepflegt hat. Durchaus sympathisch, kitschig verschmust, aber eben
nichts Neues. Auch der Techno-Sound, laut Presseheft "Maschinenraum-Rock",
nervt. Wir verstehen, Udo ist auf dem Schiff unterwegs - von New York
nach Bremerhaven -, er öffnet die Koffer einer unverhofften Erbschaft
und findet statt des erwarteten Gelds die alten Lieder, die im Nazi-Deutschland
nicht mehr gehört werden durften, Schätze von Walter Mehring,
Max Colpet, Paul Abraham, Brecht/Eisler und Hollaender. Noch mal:
Die Idee ist wirklich gut, aber sie bleibt vor lauter Beliebigkeit
auf der Strecke.
Udo
vergreift sich an den Sternen, "die niemals untergehen".
So farblos, so seicht dürften Songs wie "Ich hab noch einen
Koffer in Berlin" oder "Ich bin von Kopf bis Fuß auf
Liebe eingestellt" wohl selten aufgenommen worden sein. Blecherne
Stimmen im Maschinenhaus. Wie gut, dass Udos Lieblingsstar Marlene
das nicht mehr hören muß.
Gut
gemeint Udos englische Neufassung seines alten Apokalypso-Songs "Grande
Finale": Jetzt heißt es "Father, you should have killed
Hitler" - im fetten, rockigen Bass-Gewand. Gut gemeint auch seine
Neuschreibe des ewigen Soldatenlieds "Lili Marleen". Mit
Erlaubnis des 91-jährigen Komponisten Norbert Schultze durfte
Udo eigene Zeilen dranhängen: "Ich will nicht an der Laterne
stehn, ich will dem Krieg nicht stumm zusehn und warten, bis sie kommen.
Ohne mich. Lili Marleen."
Zwischen
all den halbherzigen Versuchen, eine sehr lebendige Kultur vor dem
Vergessen zu retten, ragen einsam ein Sänger und ein kleines
Lied heraus: Tim Fischer singt "Ein Koffer spricht", das
die Dichterin Ilse Weber im KZ Theresienstadt geschrieben hat. Thomas
Dörschel begleitet ihn am Klavier. Der Gestus, die Stimme, die
Haltung zeigen - hier wird ein Schatz gehoben und ernst genommen,
ohne seichtes Gesäusel oder "Groove von heute". Und
das, Udo, Du weißt es selber, hat nichts mit "Anbetung
der Asche" zu tun, sondern mit dem, was Dir am Herzen liegt,
aber hier im gefälligen Mainstream-Sound nicht überzeugend
rüberkommt: mit der Idee, "das Feuer weiter zu reichen".
Mein Tip: Statt "Atlantic Affairs" die wunderbare Udo-Scheibe
"Hermine" wieder auf den Plattenteller legen und Hermine
Lindenberg folgen, die auf dem "Emigrantenschiff" von Bremerhaven
aus in die Neue Welt flüchtete. Mein zweiter Tip: Jo van Nelsen
lesen, dessen erhellendes Buch "Wir richten scharf und herzlich
- Chansons aus 100 Jahren Kabarett" kürzlich bei dtv erschienen
ist, in dem auch an die deutsche Dichterin Ilse Weber (1903 - 1944)
erinnert wird und ihr zartes Lied "Ein Koffer spricht" nachgelesen
werden kann: "Ich bin ein kleiner Koffer aus Frankfurt am Main,
Und ich such meinen Herrn, wo mag er nur sein?"
"Udo
Lindenberg: Atlantic Affairs"
ist eine Gast-Kritik von Hans Happel, Juni
2002
Sende auch du uns deine Gastkritik.
Was du dabei beachten solltest, steht hier
!