Es
dauert eine gute Minute, da erklingt es zum ersten Mal, dieses unverwechselbare
"uuuhhh", wie es sich wie ein Wasserzeichen durch fast alle
ihre Songs zieht. Ein paar Sekunden später erklimmt ihre Stimme
dann erstmals diese Schwindel erregende Höhe, wo sie sich zwischen
den Wolken zu verlieren scheint. Und nach zweieinhalb Minuten passiert
der melancholischen Ballade ("Dark road") genau das, was
der zunächst selbstzweifelnde, dann wild entschlossene Text vorweg
nimmt: "I wanna kick these blues away // I wanna learn to live
again" - und schon beginnt ein druckvoller Popsong, der Himmel
öffnet sich, und da steht, die einzige und letzte Diva der britischen
Popmusik: Annie Lennox.
"Songs
of mass destruction" ist ein fast martialischer Albumtitel für
die sonst so gefühlvolle Sängerin, doch hinter der gefälligen
Oberfläche ihrer Songs (allesamt eigene Kompositionen) bewahrt
sich "La Lennox" das Recht auf die eigene Botschaft: als
Feministin, Friedens- und Menschenrechtsaktivistin, als engagierte
Streiterin für die Menschen am Rand der Gesellschaft: seien es
die Ausgegrenzten im eigenen Land, sei es die HIV-Infizierung der
Kinder in Afrika, die sie, einem Ausspruch von Nelson Mandela folgend,
als "Genozid" - Völkermord - bezeichnet.
Annie
Lennox hat, seit sie ihre Karriere als Stimme der "Eurythmics"
startete, mehr erreicht als fast jede ihrer Kolleginnen. Zuletzt erhielt
sie gar einen "Oscar" für ihren Schlusssong des letzten
Teils der "Herr der Ringe"-Trilogie. Längst schon muss
sie sich und der Musikwelt nichts mehr beweisen, und dennoch mag sie
sich auf ihren Lorbeeren nicht einfach ausruhen.
Zwar
erfindet sie sich auch auf ihrem vierten Soloalbum keineswegs neu,
wie der eingangs beschriebene Wiedererkennungswert schon des Albumopeners
beweist, und dennoch werden die "Songs of mass destruction"
zu keiner Zeit redundant. Hier der perfekte Popsong ("Big sky"),
dort ein augenzwinkernder Rap ("Womankind"), dann Akkordeon-Folk
("Ghosts in my machine"), dumpfe Drumloops ("Through
the glass darkly"), laute Percussions ("Love is blind"),
auch die elektrisierenden Electrobeats der Eurythmics-Ära ("Coloured
bedspread") - im Detail lassen sich viele Spielarten des Lennox-Sounds
entdecken, auch auf der Klaviatur emotionaler Balladen spielt sie
weiterhin in der ersten Liga ("Lost", "Fingernail moon"),
doch insgesamt wurde das Tempo erstaunlich angezogen.
Lange
nicht mehr war Annie Lennox so kraftvoll und energisch zu erleben.
Ihre Stimme, inzwischen noch eine Nuance dunkler, ist weiterhin einzigartig,
keine Gefühlsregung, die sie mit ihr nicht auszudrücken
in der Lage wäre. Sie selbst hält, wen wundert's, "Songs
of mass destruction" für ihre bislang gelungenste Arbeit,
und wahrscheinlich hat sie noch nicht einmal Unrecht (auch wenn ihr
Solo-Debüt "Diva" vermutlich auf ewig als ihr Meisterwerk
gehandelt wird).
Den
Albumtitel erklärt Annie Lennox folgendermaßen: "Wenn
ich mich umschaue, dann sehe eine Welt, in der Wahnsinn herrscht,
eine Welt voller Gewalt und Aggression, Misskommunikation und Grausamkeit."
Indem sie diese Themen in ihren Text verarbeitet, thematisiert sie
folglich die unterschädlichen Ausprägung des immer selben
Phänomens: Massenvernichtung.
Auf
den während ihrer letzten Tournee hoch gelobten Background-Chor
verzichtet sie diesmal ganz, statt dessen singt sie alles im Alleingang.
Mit einer Ausnahme: Das Stück "Sing", eine Hymne der
besonderen Art, verzeichnet im Kleingedruckten einen Chor der besonderen
Art, der von Beth Gibbons (Portishead) über KD Lang und Martha
Wainwright bis Angelique Kidjo und Madonna reicht. Sie alle (insgesamt
sind es 23 weibliche Superstars) stellten ihre Stimme in Dienst einer
guten Sache: es geht um den eingangs erwähnte Kampf für
die Eindämmung der HIV-Infektionen in Südafrika.
Die
Vorgehensweise von Annie Lennox bei dieser Kampagne ist beispielhaft,
weil sie nicht sich selbst in den Vordergrund des Projekts stellt,
sondern ihre Kreativität einsetzt, um Aufmerksamkeit auf den
gesellschaftlichen Missstand zu lenken. Das gilt auch für die
übrigen Sängerinnen, deren Appell sich vor allem an ihre
Geschlechtsgenossinnen richtet: "Sing, women, sing // let your
voice be heard // what won't kill you will make you strong".
Und
"strong", stark, das lebt Annie Lennox vor. Und als Attribut
passt das Wort auch auf ihr neues Album. Stark, ganz stark.
©
Michael Frost, 06. Oktober 2007