Es 
                    war einmal ein Biotop, ein künstliches Paradies der alternativen 
                    Szene, eine Insel im Land des westdeutschen Wirtschaftswunders, 
                    auf der die Uhren anders gingen, und die Tage kürzer 
                    waren als die Nächte - eine Insel, auf der sich alle 
                    versammelten, die nach mehr und etwas anderem suchten als 
                    nach wachsendem Komfort. Die Insel war von Mauern umgeben, 
                    und als diese 1989 umgestürzt wurden und der Ernst des 
                    Lebens auf die Inselbewohner einbrach, war es auch mit der 
                    künstlich festgehaltenen Pubertät zu Ende, in der 
                    sich manche, vor allem männliche Insulaner eingerichtet 
                    hatten. 
                  Vom 
                    Ende einer solchen Pubertät handelt Sven Regeners im 
                    Jahr 2000 veröffentlichter Debüt-Roman "Herr 
                    Lehmann" und die Verfilmung durch Leander Haußmann 
                    ("Sonnenallee") zeigt noch einmal das vergangene 
                    Domizil der Alternativen - ein Kreuzberg SO 36 der späten 
                    80-er Jahre, den Charme der rauen Kneipen, Künstlerexistenzen 
                    am Rande des Nervenzusammenbruchs, eine Boheme mit Currywurst 
                    und Döner. 
                  Der 
                    Autor dieser Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies 
                    ist Chef der Element of Crime, und obwohl seine Band nur mit 
                    einem frühen - englischsprachigen - Song im Film vertreten 
                    ist (NERVOUS AND BLUE), prägt seine Musik den Charakter 
                    des gesamten Soundtracks: Eine leise Tristesse spricht aus 
                    fast allen der 17 Titel, verbunden mit einer extrem sparsamen 
                    Instrumentierung, mit lakonisch gecoverten Pop-Melodien (I 
                    WILL SURVIVE), Schmachtfetzen (SOUL HAPPY HOUR) oder Klassikern 
                    (ACROSS THE UNIVERSE von Lennon/McCartney in einer choralartigen 
                    Version von Laibach). 
                  Ein 
                    einziger Song ist deutsch gesungen, auch das gehörte 
                    zu der Insel: Sie war trotz Rio Reiser und Ton, Steine, Scherben 
                    selbstverständlich in den Händen der Beatles- und 
                    Stones-Nachfahren, und Englisch war ihre musikalische Verkehrssprache. 
                    Hier durchbrechen die Youngster Lexy& K-Paul die Regel: 
                    "Morgen früh sind wir schön oder tot - oder 
                    beides!" singen sie (with a little help from friend Sven 
                    Regener als quasi väterlichem Gast). 
                  Diese 
                    Zeile könnte die Lebensmaxime von Herrn Lehmann sein 
                    (im Film: Christian Ulmen), der sich nicht entscheiden kann 
                    erwachsen zu werden, der in der programmatischen ersten Szene 
                    von Buch und Film buchstäblich auf den Hund kommt - er 
                    besänftigt einen bissigen Straßenköter, den 
                    er mit Whiskey beglückt. 
                  So 
                    hat auch dieser Soundtrack etwas sehr Sanftes (zum Beispiel 
                    die beiden Songs der Eels: NOVOCAINE FOR THE SOUL und THE 
                    SOUND OF FEAR). Dagegen fegen die Violent Femmes mit ihrem 
                    schlichten Straßenmusiksound (BLISTER IN THE SUN) geradezu 
                    heftig rockend los. 
                  Leander 
                    Haussmann und Sven Regeners Lebenspartnerin, die Labomat-Labelgründerin 
                    Charlotte Goltermann, haben die Musik zusammengestellt. Sie 
                    haben dabei - laut Presse-Info - an die legendären Musikkassetten 
                    gedacht, die man damals mit Hingabe selbst zusammengebastelt 
                    hat, die man Freunden und Freundinnen schenkte, um sie an 
                    den eigenen Träumen teilnehmen zu lassen. 
                  Genau 
                    das macht diese Tonspur zum Film so sympathisch: Sie feiert 
                    noch einmal ein Prinzip, das mit dem Ende der Hörkassette 
                    fast verschwunden ist, das in vielen Hollywood-Filmen der 
                    letzten Jahre hochgehalten wurde, nicht zuletzt in Teenie-Streifen, 
                    deren Belanglosigkeit auf diese Weise musikalisch überzuckert 
                    wird. Aber hier geht es nicht ums Überzuckern, sondern 
                    ums Unterfüttern: Das Klanggewebe in "Herr Lehmann" 
                    dokumentiert jedoch keineswegs die späten 80-er Jahre, 
                    zuviel jüngere Songs und Einspielungen sind darunter. 
                    
                  Und 
                    wer genau hinhört, entdeckt, dass der altlinken Kreuzberg-Szene 
                    der frühen 70-er Jahre nicht nur mit einem ihrer ältesten 
                    Hits Reverenz erwiesen wird - mit dem italienischen Partisanenlied 
                    BELLA CIAO (hier in einer englischen Version von Anita Lane) 
                    -, sondern noch mehr mit einer Parodie auf das damals bevorzugte 
                    Kino-Genre, den Italo-Western a la Sergio Leone. BUENAS TARDES, 
                    AMIGO singen die Gebrüder Ween, und das klingt so schmerzhaft 
                    traurig wie die Seele des einsamen Cowboys, der als Herr Lehmann 
                    auf den Straßen von Berlin durch die wüste Nacht 
                    zieht. 
                  Die 
                    Lehmanns wollten Cowboys sein, sie sahen sich an der Front, 
                    und als die Front fiel, - der Film zeigt es in einer seiner 
                    stärksten Szenen -, waren sie nicht darauf vorbereitet, 
                    sondern standen erstarrt vor dem Fernseher in ihrer Kneipe: 
                    "Sie konnten nicht glauben, was sie sahen", singen 
                    die beiden Weens in ihrem 7-Minuten-Western, den Phillip Haußmann 
                    im Booklet zum Soundtrack mit kindlicher Handschrift illustriert 
                    hat. 
                  Der 
                    schmale Grat zwischen tödlichem Ernst und Witz muß 
                    den Vater als Regisseur inspiriert haben, er behauptet sich 
                    in der Tonspur zum Film, in den Songs von Cake, Fad Gadget, 
                    Jazz Butcher, Eels, Ween, Element of Crime, Violent Femmes 
                    usw., in der unterkühlten, sublimen, atmosphärisch 
                    dunklen, zwischen Rock, Punk, Folk, Western angesiedelten 
                    Musikmischung, die vielleicht länger in Erinnerung bleiben 
                    wird als die Bilder des Films, in denen einsame Jungs in dunklen 
                    Kneipen rumhängen, und kaum auf die Musik achten, die 
                    ihr Leben umspült. 
                  "Musik" 
                    heißt es in Sven Regeners Roman, "sagte ihm nichts, 
                    nach seiner Meinug war sie in Kneipen nur dazu gut, dass die 
                    Leute sich in Ruhe anschreien konnten." Understatement 
                    ist ein Element der Element of Crime. Understatement prägt 
                    diesen Soundtrack. 
                  "Herr 
                    Lehmann / Original Soundtrack"
                    ist ein Beitrag von Hans Happel für CD-KRITIK.DE
                    © Hans Happel, 25. Oktober 2003