.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de

 

Außerordentlich Kühn
von Hans Happel


Da machen zwei Brüder ihrem Familiennamen alle Ehre: Denn die Einspielung von Joachim und Rolf Kühn darf als kühn bezeichnet werden. "love stories" betiteln zwei Koryphäen der deutschen Jazz-Szene eine CD, mit der die beiden nicht nur ihr Publikum, sondern sich selber beschenken: Sie feiern mit klassischen Liebesballaden aus dem Great American Songbook zwei runde Geburtstage:

Der Pianist Joachim Kühn wurde am 15. März 60 Jahre alt, der Klarinettist wird am 29. September 75. Ihr brüderliches Geburtstagsständchen ist kein typisches Jubiläums-Konzert mit Gästen, es ist ein kammermusikalisches Meisterwerk, intim, intensiv und sensibel. Rolf Kühn ist seit den 50-er Jahren als Jazz-Musiker aktiv.

Der Klarinettist machte er bereits 1958 Furore, als er in New York Mitglied der Benny-Goodman-Band wurde, die er zwei Jahre lang in Goodmans Abwesenheit leitete. Zurück in Deutschland wurde er Chef des NDR-Fernsehorchesters und begann neben dem Klarinetten-Spiel eine zweite Karriere als Musical-Dirigent und Komponist fürs Fernsehen.

In den 80-er Jahren wurde er musikalischer Leiter am Berliner "Theater des Westens". Sein 15 Jahre jüngerer Bruder Joachim ist als Jazz-Pianist in allen Genres zu Hause. Er konzertiert ebenso mit dem Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman wie mit dem Leipziger Thomaner-Chor. Er war erst fünf, als Rolf ihre Heimatstadt Leipzig verließ, um 1950 zu Werner Müllers RIAS-Orchester nach Westberlin zu gehen.

Seit ihrer ersten gemeinsamen Langspielsplatte - 1964 Live in Warschau - treffen sie sich in regelmäßigen Abständen um gemeinsam zu musizieren. "Die auf Schallplatten dokumentierte Story ihrer Wiedervereinigung liest sich wie eine kurze Geschichte des europäischen Jazz in den Sixties Ost/West", schreibt Siegfried Schmidt-Joos in seiner sorgfältigen Einführung im Booklet von love stories.

Darin bewundert er die außerordentlich stilsichere Auswahl der neun Titel aus der "uferlosen Fülle" der klassischen Standards. Darunter selten zu hörende Stücke von Cole Porter (I LOVE YOU/ WHAT IS THIS THING CALLED LOVE), ein Titel des Jazz-Pianisten Erroll Garner (MISTY), sowie Kompositionen von Dave Brubeck (IN YOUR OWN SWEET WAY), Horace Silver (PEACE) und der Gershwin-Evergreen THE MAN I LOVE. Sie fügen den Klassikern mit FREE LOVE eine Eigenkomposition an, die programmatisch die Kunst des Umgang mit den alten Meistern erläutert.

In ihrer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit den vielfältigen Sprachen des Jazz haben sie eine Souvernität erworben, die Neugier, Abenteuerlust und Perfektion in Einklang bringt. Joachim und Rolf Kühn tun den großen Melodien keine Gewalt an, wenn sie sie mit größter Lust auseinandernehmen, Interpunktionen setzen, Atem-Pausen einbauen, wenn Joachim Kühn am Piano das Melodiespiel des Bruders auf der Klarinette mit einem Parlando umgarnt, das niemals im Ornament stecken bleibt.

Die Brüder nehmen ihr Material geradezu analytisch auseinander, aber sie sezieren es nicht kalt-wissenschaftlich, sie lassen die Musik atmen, und so sehr sie in freien Formen den Rhythmus aufbrechen, spannen sie den Bogen gerade soweit, dass der musikalische Kern immer hörbar bleibt. Das äußerst transparente Zusammenspiel von Piano und Klarinette sorgt für selten zu hörende Klangfarben, und die Klarinette - im Jazz seit langem kein führendes Soloinstrument mehr - hat im warmen, vollen und sehr dynamischen Ton Rolf Kühns einen Fürsprecher, der alles Museale vergessen lässt.

Hier ist kein Revival-Duo am Werk, hier geht es um das gemeinsame Durchbuchstabieren schöner Balladen. Wenn die Kühns THE MAN I LOVE harmonisch und melodisch auseinandernehmen, so versetzen sie den in einer Vielzahl von Versionen geradezu verschlissenen Song in den Zustand des Meisterwerks zurück Dabei bleibt die Freiheit, die sich nehmen, an den Respekt vor der Komposition gebunden.

Siegfried Schmidt-Joos schreibt: "Oft spinnen sie die Intentionen der Komponisten derart logisch fort, dass Arlen, Garner, Gershwin oder Porter erstaunt wären, könnten sie es hören." Wir können dieses aufregend unaufgeregte Brüderpaar hören und ihr Zusammenspiel bewundern, in dem keiner dem anderen den solistischen Rang streitig macht, in dem auf sehr brüderliche Art im allerbesten Sinn gemeinsam musiziert wird.

Die CD love stories ist ein seltenes Ereignis, es ist eine Hommage an die Geschichte des Jazz, die ihren Grund in den Melodien des Great american songbook hat, die kein Ende hat, sondern mit FREE LOVE wieder einen Schritt weiter geht. love stories sind eine Liebeserklärung, eindringlich, sehr fein, auch voller Humor, und - wie der gemeinsame Name schon sagt - außerordentlich kühn.

© Hans Happel, 10. April 2004

 

Weitere Beiträge von Hans Happel


[Archiv] [Up]