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Hommage an ein
Lebensgefühl


Sich in Zeiten der Computertechnik mit nichts als einer akustischen Gitarre an die Öffentlichkeit zu wagen, das nötigte auch einem US-amerikanischen Plattenproduzenten so viel Respekt ab, dass er Keren Anns erstes überwiegend englischsprachiges Album "Not going anywhere" in Amerika veröffentlichen wollte.

Für Keren Ann, die Französin mit israelisch-niederländischer Herkunft, ging damit ein Traum in Erfüllung. Seit jeher fasziniert vom Lebensgefühl New Yorks quartierte sie sich in einem Viertel nördlich von "Little Italy" - Nolita - ein und setzte dort die in Paris begonnenen Vorarbeiten zu ihrem neuen Album fort, zunächst wiederum mit nichts als ihrer Gitarre und dieser Stimme, die zum Schönsten gehört, was die französische Musikszene derzeit zu bieten hat. Erst nach diesen Vorarbeiten lud sie Musiker, die sie in New York kennen gelernt hatte, zu den Aufnahmen ein und ergänzte ihr Album so Stück für Stück um zusätzliche Komponenten.

Ob das alles gut gehen würde, unkten selbst Fans, denn "Nolita" wurde - abgesehen von ihrem Sideprojekt "Lady & Bird" - zu Keren Anns erstem Studioalbum, das sie ohne Mitwirkung ihres langjährigen musikalischen Begleiters Benjamin Biolay produzieren würde. Dass sie Keren Ann damit maßlos unterschätzten, auch das macht "Nolita" deutlich. Denn ohne Biolay offenbart sich eine neue, internationale Seite der Songschreiberin. Schon auf "Not going anywhere" präsentierte sie sich erstmals in englischer Sprache, und "Nolita" setzt diesen Weg fort.

In New York begab sie sich auf die Suche nach einem künstlerischen, vielleicht auch ganz persönlichen Standort: "Où vais-je? A présent que n'ai-je?" heißt es im ersten Song, noch auf Französisch, als suchte sie eine Brücke zwischen Vergangenem und Neuem. Mit leiser, unter die Haut gehender Stimme, singt sie ihre zerbrechlichen Balladen, doch spätestens mit "Chelsea burns" erklingt ein ungewohnter Sound aus Folk, sogar Country, ein amerikanischer Einfluss, der sie ihrem großen Vorbild Suzanne Vega näher bringt als jemals zuvor, doch gleichzeitig ihren eigenen Standpunkt unterstreicht.

Denn im Gegensatz zum naiven Charme von Kolleginnen wie Coralie Clément, Helena oder auch Carla Bruni ist Keren Ann eine ausgereifte Musikerin mit einem eigenen Charisma, einem festen und unverbrüchlichen Gespür für Ausdruck und Atmosphäre.

Dort, wo sie das Chanson verlässt, erobert ein relaxter Bluessound die Musik von Keren Ann. Sie unterstreicht das ungewohnte Feeling mit Fiedel und Mundharmonika, und selbst, wenn sie im Verlauf des Albums gelegentlich zur französischen Sprache zurückkehrt ("Midi dans le salon de la Duchesse"), bleibt die Atmosphäre von Blues und Slideguitar (in Wirklichkeit wurde eine Sitar benutzt) vorherrschend.

In den USA ist man entsprechend entzückt über die junge Französin mit den multikulturellen Wurzeln, die ihre leisen Songs arrangiert wie spontane Fotoschnappschüsse mit unvorhergesehener Wirkung, jeder für sich eine Momentaufnahme, doch gemeinsam betrachtet eine Hommage an ein Lebensgefühl, das sie kennen gelernt und zu teilen begenonnen hat, im Viertel nördlich von 'Little Italy'. "It's late, I think I'm gonna stay" raunt sie zu Beginn des Titelsongs, und vor dem geistigen Auge erstrahlt ihr zauberhaftes Lächeln - zu zauberhafter Musik.

© Michael Frost, 10. September 2005

 


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