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Amazing Grace


Sie war, lange vor Carla Bruni, das erste singende Supermodel - mehr noch: Muse und Gesamtkunstwerk - Grace Jones. In der Clubszene der 80er Jahre war sie omnipräsent, ihr Best-Of-Album "Island Life" verkaufte sich millionenfach, kein Dancefloor (damals noch "Tanzfläche") kam ohne ihre Hits "Slave to the rhythm", das Astor-Piazzolla-Cover "Libertango" ("I've seen that face before", von Roman Polanski auch als musikalisches Leitmotiv in seinem Paris-Thriller "Frantic" verwendet) und vor allem ihre unglaubliche Discoversion von "La vie en rose" aus.

Nebenbei reüssierte sie als Schauspielerin, ließ sich an der Seite von James Bond vom Eiffelturm abseilen (in der Rolle der "May Day" in "Im Angesicht des Todes") - egal, was sie tat: Jeder ihrer Schritte war spektakulär, stets war sie ihrer Zeit voraus - und als der Niedergang der Disco-Zeit begann, da hängte sie die Musik einfach an den Nagel, anstatt ihr Dasein mit zweitklassigen Aufnahmen zu fristen.

Bis jetzt. Die Rückkehr von Grace Jones ist wohl das Comeback des Jahres, zudem das am wenigsten erwartete: Das letzte Album ("Bulletproof heart") liegt fast zwanzig Jahre zurück. Zudem feierte die in Jamaica geborene Künstlerin in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag - unfassbar, denn die Kunstfigur Grace Jones existierte immer parallel zu Raum und Zeit, nie war sie festzulegen, nicht auf Genre, nicht auf Geschlecht - sie zelebrierte ihr androgynes Image, war mal Vamp und mal Vampir -, und schon gar nicht schien für sie etwas derart Vergängliches zu gelten wie das eigene Alter.

Was nun, so die Frage angesichts dieser unerwarteten Rückkehr, ist von Grace Jones 2008 zu erwarten? Krampfhaftes Festhalten am Traum von der ewigen Jugend? Oder gar ein weises Alterswerk? Eine Peinlichkeit, die nur dazu taugt, den Kult um die selbst geschaffene Kunstfigur "Grace Jones" zu zerstören? Die überraschende Antwort: Weder noch.

Grace Jones im Jahr 2008 ist ein gereiftes, aber weiterhin schillernd buntes Gesamtkunstwerk. "I'm strong enough, I'm tough enough", heißt es in "I'm crying", und niemand, der "Hurricane" gehört hat, würde das ernsthaft bestreiten. Die Sängerin, die für ihre Comeback mit Brian Eno, Tricky und Sly & Robbie einige der versiertesten Produzenten der Musikszene engagierte, begeht weder den Fehler langweiliger Reminiszenzen an den eigenen Sound, noch dient sie sich übertrieben aktuellen Moden an.

Eno und vor allem Tricky, mit dem sie den Titelsong schrieb, geleiten ihren Sound zwar in die elektronische Gegenwart, achten aber peinlich genau darauf, dass Jones darin noch erkennbar bleibt und lassen ihr jeden Freiraum zur Entfaltung ihrer weiterhin unverwechselbaren Stimme, die noch immer synonym steht für coole, kraftvolle Clubmusik.


(Videoclip: "Corporate cannibal"/Quelle: youtube.de) 

Augenzwinkernd, spielerisch und bisweilen selbstironisch geht Grace Jones, die an einer Stelle des Albums sogar die Anfangszeile von "Amazing grace" intoniert, mit ihrer Vergangenheit um. Immer wieder finden sich auf "Hurricane" kurze - oder auch längere ("Love you to life") - Passagen, die an den einen oder anderen ihrer früheren Hits erinnern, Zitate eines Beats, einer Tonlage, eines Rhythmus' oder einer Textzeile. Diese Elemente machen Sinn, um die Musik der Ikone der 80er Jahre mit ihrer Gegenwart zu verbinden, und Grace Jones nutzt sie lediglich als Ausgangspunkt für die Bestimmung ihres aktuellen Standorts, nicht als billigen Abklatsch.

So dürften einige ihrer Kolleginnen beim Hören von Songs wie "This is", "Corporate cannibal", "Hurricane" oder "Sunset Sunrise" ziemlich blass geworden sein. Für Madonna etwa ist die Rückkehr der zehn jahre älteren Grace Jones zudem sicher ein Angriff auf den Pop-Thron von unerwarteter Seite, galt ihre Sorge in der Vergangenheit doch eher den jüngeren Konkurrentinnen. Andererseits kann sie daraus die Hoffnung schöpfen, auch noch mit 60 als Stilikone zu gelten - sofern Grace Jones nicht noch weitere Alben in Planung hat.

 

© Michael Frost, 21.10.2008


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