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"Ohne den radikalen Anspruch des Debüts"


Die Revanche des Tango geht in die dritte Runde. Kaum jemand hätte es für möglich gehalten, dass ein angestaubter Rhythmus auch nach Piazzollas tango nuevo noch zu solcher Selbsterneuerung fähig wäre. Und doch gelang es Eduardo Makaroff, Philippe Cohen Solal und Christoph H. Müller von Paris aus, nicht nur eine schlichte Renaissance des Tango einzuleiten, sondern sie in der europäischen Lounge- und Clubkultur unverzichtbar zu machen: Das "Gotan Project", wie sich das Trio seitdem nannte, ist ein enormer Erfolg, der selbst Hollywood inspirierte.

Seit dem Debütalbum sind acht Jahre vergangen, in denen Gotan Project ein zweites, nicht minder großartiges Album veröffentlichte, rund um den Globus tourte und die elegante Ästhetik seiner Auftritte auch visuell festhielt ("La Revancha del Tango Live", DVD/2005). Daneben widmeten sich die Musiker jeweils interessanten Seitenprojekten. Eduardo Makaroff gründete ein eigenes Label, das inzwischen mehrere fantastische argentinische Tangokünstler nach Europa brachte, darunter Melingo und Juan Carlos Cáceres.

Mit ihrem Albumtitel "Tango 3.0" legt Gotan Project die Messlatte überraschend hoch, weil suggeriert wird, dass mit der neuen Veröffentlichung eine Weiterentwicklung des bisherigen Werks einhergeht, eine neue Dimension erreicht wird, vielleicht gar eine neue Ära.

All das ist "Tango 3.0" allerdings nicht. Gotan Project bleibt den stilprägenden Grundlinien der bisherigen Alben treu: Dumpfe Beats, kühle Elektrosamples, ein stoisches Bandoneon und wechselnde Gesangsstimmen, meistens jedoch als zufällig eingestreute Halbsätze. Es ergibt sich ein nächtliches Szenario, gleichermaßen cool und hitzig, erotisch aufgeladen - und dennoch unnahbar. Die musikalische Abbildung dieser Atmosphäre ist die große Kunst, die Gotan Project weit besser als jedes in der Folge entstandene Konkurrenzprojekt erreicht, und auch "Tango 3.0" hat diese Momente, etwa bei den aufeinander folgenden Stücken "Mil milliones" und "Tu misterio" - letzteres mit dem rauen Timbre des bereits erwähnten Melingo veredelt.

Andererseits jedoch irritieren Stücke, die deutlich oberflächlicher bleiben, um nicht zu sagen: freundlicher und harmloser, als habe der Tango den Schutz der Dunkelheit und der vernebelten Nachtclubs verlassen. Tatsächlich: Gotan Project sehen ihren "Tango 3.0" offenbar auch in der Verknüpfung des Tango mit anderen Kunstgattungen. So vertonen sie in "Rayuela" den gleichnamigen Roman der linken argentinischen Schriftsteller-Ikone Julio Córtazar, doch der Kinderchor, der darin zum Einsatz kommt, passt wohl zum Roman, nicht jedoch zur Atmosphäre des Electrotango - und auch sonst gerät mancher Beat zu sehr aus dem Tangotakt, klingt manche Gesangspartie ("Mensajero") zu freundlich, fast ein wenig süßlich.

 

"La gloria", das Tango und Fußball, folglich die beiden großen Leidenschaften der Argentinier miteinander verbinden will, klingt dank des harmlosen Beats tatsächlich fast stadiontauglich, so dass auch Gilles Peterson, Weltmusik-Experte der BBC, konstatieren muss, dass "Tango 3.0" ohne den "gleichen radikalen Pionier-Anspruch des Debüts" auskommen müsse. Peterson ist dennoch begeistert, und man mag seine Aussage nachvollziehen, dass es "nur eine handvoll Platten gab, die einen derart großen Einfluss" auf seine Hörer hatten. Diesen Einfluss wird Gotan Project mit "Tango 3.0" bestätigen, vielleicht festigen - aber nicht vergrößern.

© Michael Frost, 25.04.2010

 

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