Jemand
legt den Schalter um, und es wird dunkel. Die leuchtende Skyline einer
fremden Stadt erscheint im Hintergrund, die Scheinwerfer der Autos
ziehen neonfarbene Fäden, und in der Hitze dieser tropischen
Nacht erklingt ein dunkler, schwerer Beat, umspielt von der elektrisierenden
Erotik einer Frauenstimme: Cristina, deren Gesang die Szenerie erhellt
- gleich dem Vollmond.
Es
könnte der Beginn eines Albums von Portishead oder Massive Attack
sein. Die Verwandtschaft zur Elegie des Triphop ist unverkennbar,
doch schnell werden die Unterschiede deutlich: die Sprache: Spanisch,
die Gitarre: akustisch, die Tasten: Barpiano und Akkordeon - und nicht
zuletzt der Rhythmus: Tango.
So
ist "Lunatico" das neue Album des gefeierten "Gotan
Project", dem französischen Trio, dessen Debüt "La
revancha del tango" einer kleinen Revolution gleich kam. Denn
wohl selten zuvor hatten sich Musiker derart beherzt und ungezügelt
eines traditionellen, etwas verstaubten und in die jahre gekommenen
Rhythmus' angenommen und seine Patina ebenso kurz entschlossen wie
wirkungsvoll, unter Zugabe einer gehörigen Portion Electronica,
entfernt.
Was
seither weltweit auf Konzertbühnen gefeiert wird und aus Lounge-Bars,
Vernissagen und In-Boutiquen nicht mehr wegzudenken ist, findet nun
mit "Lunático" eine Fortsetzung, deren Ausdruckskraft
über das Debüt noch weit hinausgeht. Eduardo Makaroff, Philippe
Cohen-Solal und Christoph H. Müller setzten sich zum Ziel, Ursprung
und Facetten des Tango nochmals genauer zu beleuchten. Deshalb entstand
das Album nicht in Paris, der Heimatstadt des Trios, sondern dort,
wo der Tango geboren wurde: in Buenos Aires, begleitet von zahlreichen
Musikern, darunter Bandoneon-Spieler, ein Tangoquartett, ein komplettes
Streichorchester - sowie Joey Burns und John Covertino, Gitarrist
bzw. Drummer der US-Band Calexico.
"Lunático"
ist eine Hommage an Buenos Aires, Schmelztiegel aus indianischen Ureinwohnern,
den Nachfahren spanischer Eroberer und italienischer Einwanderer,
die das Bandoneon ins Land brachten. Es ist die Skyline von Buenos
Aires, über der gleich zum Beginn des Albums der Mond aufgeht,
und der beleuchtet Geschichte und Gegenwart der Stadt, seine Treffpunkte,
die hellen und die dunklen Plätze, es setzt seinen Idolen wie
Astor Piazzolla ein Denkmal, und mit der Rap-Performance von Apolo
Novax und Chili Parker ("Koxmox") baut es eine Brücke
zur Gegenwart.
Dabei
werden die sozialen Gegensätze und Spannungen Argentiniens keineswegs
ausgespart. "Criminal" dokumentiert eine Demonstration auf
der durch die Proteste der Diktaturgegner berühmt gewordenen
"Plaza de Mayo".
Und
doch ist "Lunático" nur eine Metapher. Gemeint ist
damit nicht der Mond, sondern das gleichnamige Rennpferd, das einer
der ganz großen Legenden des Tangos gehörte: Carlos Gardel.
Mit Hihats, gesampelten Lautsprecheransagen und virtuosen Bandeonläufen
stellt Gotan Project in dem Titelsong ein solches Pferderennen nach.
Doch der Gewinner steht schon zu Beginn fest: es ist "Lunático"
selbst, eines der aufregendsten Alben dieses Frühjahrs.
©
Michael
Frost, 26. April 2006