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Großstadtmusik und unerfüllte Träume


Denken Sie an Marlene Dietrich, eine sowjetische Geheimagentin, Siouxsie and The Banshees - und an sehr viel Wodka. Vermutlich kommen Sie in der Quersumme dieser vier Komponenten der Stimme von Irina Doubrovskaja ziemlich nahe. Sie ist die Sängerin von "ErsatzMusika", einer Band, die kurz nach dem Zerfall des Warschauer Paktes in Berlin "strandete", wie es ihre Plattenfirma nennt.

Und so atmet die Musik dieser ungewöhnlichen Gruppe die tief sitzende Melancholie des Exils. Ständig klingt es, als hätte man sich zu später Stunde in einer dunklen Bar versammelt, viel zu tief ins Glas geschaut und sich bei der Gelegenheit alte Geschichten von Mütterchen Russland erzählt, allerdings, und darin besteht eine weitere Besonderheit Doubrovskajas und ihrer sechs Mannen, auf Englisch.

"Ersatzmusika", schreibt die Band in ihren Linernotes zum Album, "have inaugurated the Old Wave and now resurrect melodies from the late Soviet to the end of the Wende." Offenbar eine psychedelische Zeitspanne mit bitteren Erfahrungen, aber auch mit musikalischen Begegnungen der besonderen Art: Ersatzmusika machen Großstadtmusik für das 21. Jahrhundert, sie spielen mit Versatzstücken aus Rock, Elektronica, Folk und unerfüllten Träumen, bleiben dabei unberechenbar und geheimnisvoll, sie spielen mit Klischees, aber verklären sie nicht, in ihrem spielerischen Umgang mit der Tradition sind sie ihrer Zeit voraus.

"Urban Folk" möchte dieses Genre genannt werden, und es braucht dazu eine junge, energetische Szene wie sie in Berlin existiert, derzeit vielleicht sogar stärker als in jeder anderen europäischen Metropole. Denn in den letzten Jahren hat die deutsche Hauptstadt eine Brückenfunktion zwischen "altem" und "neuem" Europa übernommen, nirgendwo mischen sich Ost und West so gezielt und deutlich wie hier.

"Songs unrecantable" sind dabei wohl mehr als nur ein Dokument vorübergehender Wehmut, sondern vielmehr eine grundsätzliche Haltung, die düster und dramatisch ist, konsequent und kompromisslos - nach "Voice letter" (2007) übrigens bereits der zweite Streich der Wahl-Berliner, nicht minder spannend und aufregend als das Debüt.

 

© Michael Frost, 02.04.2009


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