"Vor langer Zeit waren die Erde und der Himmel durch einen riesigen Baum verbunden, die Menschen lebten in Höhlen, Seite an Seite mit sehr mysteriösen Tieren. Eines Tages tauchte ein goldener Hahn auf und trat so lange an den Baum, bis er umfiel und Erde und Himmel trennte. Das war der Zeitpunkt, an dem die Menschen und Tiere die Höhlen verließen und in der Natur zu leben begannen." Diese Geschichte ließe sich zu einem blauen Kitschmärchen à la "Avatar" verfilmen - oder zu "Ha ha lili" vertonen, einem bittersüßen, exotisch anmutenden Märchen aus Klängen mit geheimnisvoller Gesangsstimme. Die gehört Sa Dingding, im Westen seit ihrem Debüt "Alive" als die schönste Stimme Chinas bekannt.
Sa Dingding verdankt ihren Ruhm in Europa ihrer unvergleichlichen Art, chinesische Musiktradition und westliche Popkultur miteinander zu verbinden. Ihre Musik ist der Baum, der Ost und West verbindet, und auf "Harmony" präsentiert sich dieser Baum in voller Blüte. Sa Dingding erzählt in leuchtenden Farben von dem Kreislauf alles natürlichen Lebens, wählt dafür das Beispiel des Wassertropfens, der als Regen auf die Erde fällt, bis er irgendwann verdunstet und wieder in eine Wolke aufsteigt - mit spielerischer Leichtigkeit verknüpft Sa Dingding Philosophie und Unterhaltung, Liebeslieder, Volksmärchen und ernste Betrachtungen.
Das Booklet zu "Harmony" enthält sämtliche Texte in englischer Übersetzung, was für das Verständnis der Musik unabdingbar ist, doch selbstverständlich kann man sich auch einfach der Schönheit der Stimme und der Arrangements hingeben, den ungewohnten Instrumenten, die sie fast liebevoll in ihr rhythmisches Klangkonzept einbettet. "Harmony" ist eine Mischung aus Pop, Ambient und chinesischen Traditionen, wohl dosiert und derart ausgewogen, dass sie weder im Westen noch im Fernen Osten wirklich anecken dürfte.
"Ich liebe die Kultur meines Landes", sagt sie, "deshalb ist Teil meiner Arbeit, sie den Menschen im Westen näher zu bringen." Seit sie vor wenigen Jahren erstmals auf dem WOMAD-Festival in der Londoner Royal Albert Hall zu hören war, ist ihre Fangemeinde in Europa entsprechend gewachsen. Björk-Produzent Marius de Vries, den sie zur selben Zeit kennen lernte, folgte ihr 2009 nach China, wo er mit ihr die Lieder für "Harmony" aufnahm.
De Vries zeigt sich dabei einmal mehr als Produzent mit Fingerspitzengefühl. Seine Aufgabe ist es nicht, sich selbst, sondern die Interpretin in den Vordergrund zu stellen. Nachdem Sa Dingding die Lieder, die sie überwiegend auf Sanskrit und Mandarin, aber auch in einer eigenen Kunstsprache singt, für ihn übersetzt hatte, ging es bei der Produktion vor allem um die Übertragung der Geschichte und ihrer Atmosphäre auf die Musik. So entstanden leise, fröhliche und verspielte Passagen ebenso wie majestetisch und erhaben wirkende Passagen, in denen ungeahnte Kräfte freigesetzt zu werden scheinen.
So tief taucht man ein in diese ferne, fremde Welt, bis man schließlich ausgerechnet das einzige in englischer Sprache gesungene Lied als Fremdkörper wahrnimmt: "Lucky day" ist eine spektakuläre Komposition von Marius de Vries und Sa Dingding, doch man wünschte sich auch hier fast eine Version in Sanskrit oder Mandarin. Paul Oakenfold, der das Eröffnungslied über den Baum, der Erde und Himmel verband, zum Albumende in einer Remixversion noch einmal präsentieren darf, beließ es klugerweise bei der Originalsprache, steuert dann aber selbst ein paar englische Zeilen bei. Der hypnotische Rhythmus des Songs, den er dabei nochmals hervorhebt, bildet das furiose Finale eines starken Albums im Grenzbereich zwischen Pop, House, Ambient und fernöstlicher Folklore, das viele Kolleginnen aus dem Westen ziemlich blass aussehen lässt.
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Michael Frost, 29.03.2010