China ist in aller Munde und doch ein unbekanntes Land. Seine Kultur ist uns fremd, seine Musik kennen wir allenfalls aus China-Restaurants. Man ahnt zwar die Fülle und Vielfalt musikalischer Traditionen, aber man kennt sie nicht. Umso wichtiger sind folglich Künstlerinnen wie Sa Dingding. Die junge Chinesin hat beste Chancen, Chinas erster Musikstar zu werden, der sowohl im Fernen Osten als auch im Westen erfolgreich ist: Gerade erst erhielt sie den "World Music Award" der BBC als beste asiatische Sängerin.
Ausgezeichnet wurde sie für ein Album, das jetzt auch in Deutschland erscheint: "Alive" heißt es, und Sa Dingding vereint darauf Musik aus verschiedenen Teilen Chinas. Sie singt auf Mandarin, Sanskrit, Tibetisch (leider werden Textübersetzungen im Booklet schmerzlich vermisst) und einer lautmalerischen Kunstsprache, die sie selbst erfand. Sie spielt eine chinesische Zither (zheng), mongolische Pferdekopfgeige, Trommel und Gong, sie integriert den Gesang buddhistischer Mönche und chinesischer Instrumentalmusik - und sie bedient sich immer wieder eines reichhaltigen elektronischen Equipments, das ihr bereits den Ruf einer "chinesischen Björk" einbrachte, während ihr zarter und kunstvoller Gesang mit Kate Bush verglichen wurde.
Die Isländerin ist nicht die einzige westliche Referenz, die deutlich macht, dass uns Sa Dingdings Musik längst nicht so fremd ist wie gedacht. In ihren hypnotischen Beats und dem beschwörenden, manchmal tranceartigen Gesang erkennt man bisweilen Sinéad O'Connor oder die norwegische Sami-Sängerin Mari Boine - die verbindenden Linien sind zunächst überraschend, zeigen jedoch letztlich, wie nah Kulturen sich kommen können.
"Alive" ist ein betörendes, sinnliches Album, das mit all seinen Ehrfurcht einflößenden Zutaten erstaunlich spielerisch umgeht und immer Popmusik bleibt, egal, ob die einem Sound zugrunde liegende Tradition vielleicht schon einige tausend Jahre alt ist. Der Titelsong ist dabei längst nicht der einzige Ohrwurm des Albums, sondern vielleicht nur der eingängigste. Beim wiederholten Hören wird man auch die übrigen, zum Teil leisen und lyrischen Lieder in ihrer ganzen Schönheit entdecken, und mit jedem Hören wird man reicher an Erkenntnis über Fülle und Vielfalt, die in der Musik von Sa Dingding zum Ausdruck kommt.
China wird in den nächsten Jahren ein Land bleiben, aus dem widersprüchliche Nachrichten kommen. Umso wichtiger sind Künstler, deren Arbeit auf beiden Seiten die Perspektive neu ausrichtet. Sa Dingding kommt hierbei wie gerufen.
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Michael Frost, 15.05.2008