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Gestochen klarer Blick


Schon 2004, auf ihrem Album "Evolve", verzichtete Ani Difranco fast vollständig auf die Beteiligung anderer Musiker. Sie und ihre Gitarre, das reichte völlig. Auch "Reprieve" ist ein derart privates, fast intimes Album geworden. Nur mit Bassist Todd Sickafoose teilt sie ihre neuen Songs, alle übrigen Instrumente spielt sie selber.

Für Fans ist das Eine-Frau-Unternehmen Ani Difranco längst keine Überraschung mehr. Ihr künstlerischer Output duldet nun einmal keine Kompromisse, keinen Diskurs über das richtige oder falsche Vorgehen: Ani Difranco ist Autorin, Komponistin, Interpretin, Instrumentalistin, Politaktivistin, Produzentin und Plattenboss in einer Person.

Besonders frappierend ist die Beständigkeit, mit der sie an die Arbeit geht. Ohne jede Spur von Zynismus oder Bitterkeit sind ihre Songs, dafür poetisch und gestochen klar, gerade wenn es darum geht, sich mit der gesellschaftlichen Realität ihres Landes auseinander zu setzen.

Diese Auseinandersetzung findet selbstverständlich auch auf "Reprieve" ihre Fortsetzung. "Terror took in a blinding ray // with the kind of pain // it would take cancer so many years just to say ...", sagt sie im Titelsong an einer Stelle. Damit erobert sie einen der Lieblingsbegriffe aus dem rhetorischen Waffenarsenal von George Bush - "terror" - zurück und stellt klar, das "Terror" nicht zwangsläufig etwas ist, das gegen die USA gerichtet ist, sondern auch von ihnen ausgehen kann. In "Reprieve" nämlich geht es um die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki.

"Sechzig Jahre danach // in der Nähe der Abwurfstelle // stehe ich mitten in Hiroshima // und sehe einen gespaltenen alten Eukalyptusbaum // einen der ganz wenigen, der überlebte und weiter lebt // als Erinnerung an den Tag, als es plötzlich Tausende von Grad im Schatten war ..." Das Covermotiv greift diesen Anblick auf, es ist die stilisierte Zeichnung eines Fotos, das am Tag nach dem Bombenabwurf auf Nagasaki gemacht wurde.

Ani Difranco haben sich solche kleinen, scheinbar unwichtigen Begebenheiten in die Seele gebrannt. Sie verarbeitet sie in ihren Songs und funktioniert sie kurzerhand um. Aus Erinnerungen werden Botschaften, politische Stellungnahmen und Ausdruck ihrer Hoffnung, nicht allein zu stehen: "The resistance is just waiting to be organized" ("Millenium theater"). Man würde ihren Optimismus gern teilen.

© Michael Frost, 11. September 2006


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