Nein, ein Album wohl dosierter Zwischentöne schwebte Nick Cave wohl nicht vor, als er an die Arbeit für den Nachfolger seines Doppel-Schlags "The Abbatoir Blues/Orpheus Lyre" machte; diesmal wollte er die volle Packung. Auf "Dig!!! Lazarus Dig!!!" ist denn auch schon der Albumtitel an Deutlichkeit nicht zu überbieten. Lazarus, der von den Toten Auferweckte, möge sich doch bitte zurück ins Grab schaufeln. Die provokante Aufforderung, nicht als Vorschlag, sondern als Imperativ formuliert, verknüpft er mit der Geschichte des Schriftstellers Larry Slowman ("On the road with Bob Dylan"), über den er singt: "He ended up like so many others do // back on the streets of New York City". Die Frage liegt auf der Hand: Warum auferstehen, wenn wir doch mit dem Leben sowieso nicht klarkommen?
Nick Cave ist kein Chronist, aber er hat die Abgründe unserer Zeit fest im Blick. Und, glaubt man "Dig!!! Lazarus Dig!!!", dann sind die Gräben noch tiefer geworden. Schroff und ruppig ist der Sound des Albums, nahezu alle weichen Linien, die größere Teile seiner vorigen Veröffentlichungen prägten, wurden verbannt. Die Gitarren dröhnen dumpf und dreckig, das Schlagzeug zerrt an den Nerven und erhöht den Puls, die Bässe kommen von ganz weit unten. So gerade heraus, so dramatisch beschwörend und dabei schneidend klar klang bislang keines der nunmehr 14 Alben des australischen Großmeisters und seiner kongenialen "Bad Seeds", bestehend aus Mick Harvey, Warren Ellis, Martyn Casey, Jim Sclavunos, Thoma Wydler, James Johnston und Conway Savage.
Fast rauschhaft entfaltet die Band einen Sound mit apokalyptischen Zügen, druckvoll, finster und magisch, mit ungeheurem Tempo und der omnipräsenten Stimme Caves, dessen Texte das Format gängiger Dreieinhalb- Minuten-Popsongs aus den Angeln heben.
"What we once thought we had we didn't // and what we have now will never be that way again", nicht nur diese Eingangszeile aus "We call upon the author", vielleicht Schlüsselstück des Albums, rüttelt an den Grundfesten tradierter Gewissheiten. Zum Beispiel Lazarus: Wurde er nach seiner Erweckung ein besserer Mensch? Konnte er mit dem geschenkten Leben umgehen? Und was machen wir mit unserem?
Nick Cave geht es um das Ganze. "Dig!!! Lazarus Dig!!!" ist voller Anspielungen über Leben und Tod, Religion und Zivilisation, Existenz und ihre Vernichtung.
Antworten, und das macht seine besondere Stärke aus, gibt er nicht. Er ist nicht der Hohepriester des Untergangs, und er will seine Fans nicht als hörige Jünger um sich scharen. Deshalb muss man die Frage, ob Jesus nur den Verlierer liebt, selbst beantworten, und angesichts des Niedergangs ("cities rust & fall to ruin // factories close ...") gibt es sowieso nur diesen einen, wenig tröstlichen Rat: "Hold on to yourself".
Nur einmal bricht der Himmel auf. Dann erscheint "Jesus of the moon", eine Ballade, vielleicht die Schönste, die er überhaupt veröffentlichte. Wie ein Leuchtfeuer wirkt sie inmitten der düsteren Visionen der übrigen Songs. Er habe es nicht übers Herz gebracht, den Titel wieder von der Liste zu streichen, wird Cave zitiert (Pressetext). Doch der Halt ist trügerisch: Die Liebe zweier Menschen ist zwar das Thema, doch in Wahrheit geht es um Trauer: "One must stay & one must depart // you're lying there in a St. James hotel bed // like a Jesus of the moon // a Jesus of the planets & the stars". Ob hier das Bild eines Lebenden oder eines Toten beschrieben wird, lässt Cave einmal mehr offen. Die Mehrdeutigkeit seiner Metaphern macht die bedrohliche, verstörende Ungewissheit der Atmosphäre dieses mächtigen Albums aus.
Elf Stücke enthält "Dig!!! Lazarus Dig!!!", und jedes ist sein eigenes Universum. Den schwersten Brocken hält Nick Cave dabei bis zum Schluss zurück. "More news from nowhere" könnte auch der Titel eines existenzialistischen Romans sein, hier ist es ein endloser halluzinogener Drogen-Trip voller Dämonen und einer Botschaft, die dem Zuhörer nochmals einen Stachel ins Fleisch bohrt: "Don't it make you feel so sad // don't the blood rush to your feet // to think that everything you do today // tomorrow is obsolete" ...
Möglich, dass auch Lazarus schließlich an der eigenen Inkonsequenz, der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit scheiterte und seine Wiedererweckung daher vergeblich war. Ob es ein richtiges Leben im Falschen gibt, ist ein ewiger Diskurs unter Sozialphilosophen und Polit-Aktivisten. In der Musik ist er in dieser Klarheit bislang nur im Ausnahmefall geführt worden.
© Michael Frost, 02.03.2008