Wie
machte er das nur ? Woher kam all die Leidenschaft, die Obsession, die
atemlose, rauschhafte Kraft der Stimme, die mitreißt, zu Herzen
geht, aber auch Angst einflößt, weil man ihr die Selbstzerstörung
des Sängers anhören kann ? Biographen suchen die Antwort immer
wieder in Brels Kindheit, dem großbürgerlichen Elternhaus
(sein Vater war Fabrikant), ihrer offenkundigen Ablehnung all dessen,
was ihm wichtig war: die Kunst, die Musik, das Chanson.
Seine
Herkunft mag also dafür verantwortlich sein, dass er ein Chansonnier
mit Ecken und Kanten war, der mit seiner Musik, seinen Texten provozieren
wollte, häufig mit beißender Ironie und Sarkasmus ("Les
Bourgois", "Ces gens-là"), oft genug im Widerspruch
zum Mainstream der Chanson-Szene.
Tatsächlich
stammen seine unsterblichen Melodien "J'arrive", "Amsterdam",
"Le Moribond", "Le plat pays" (Mijn vlakke land),
"Vesoul", "Marieke" und natürlich "Ne
me quitte pas" überwiegend aus den 60er Jahren. Bereits
1968, nur fünfzehn Jahre nach seiner Übersiedlung von Belgien
nach Paris, verkündete Brel seinen Abschied von der Bühne,
um sich künftig vor allem der Schauspielerei und der Arbeit als
Regisseur zu widmen. Sein letztes Album, das nach langer Pause 1977
- ein Jahr vor seinem Tod - erschien, wurde bereits vor der Öffentlichung
zum Kultobjekt, millionenfach überall in der Welt vorbestellt,
ohne einen einzigen Franc in Werbung investiert zu haben.
"Brel
Infiniment" präsentiert anlässlich des 25. Todestags
von Jacques Brel 40 seiner bedeutendsten Kompositionen, und zwar durchweg
in remasterten Fassungen. Die durch den Einsatz moderner Technik gewonnene
Tonqualität ist - abgsehen von fünf bislang unveröffentlichten
Titeln - die eigentliche Überraschung dieser Veröffentlichung.
In
der Schärfe des Sounds durchlebt man sowohl die schonungslose
Selbstironie des furiosen "Chanson de Jacky" als auch die
bestürzende Verwundbarkeit von "Ne me quitte pas",
die Angst vor der Einsamkeit ("La chanson des vieux amants")
und begreift die Ausnahmestellung Brels in der Geschichte des Chansons.
Wer sonst verfügte über eine vergleichbare Bandbreite von
Stimmen und Stimmungen, wer sonst bewältigte ähnliche Achternbahnfahrten
zwischen himmelhochjauchzenden Kirmeswalzern und zu Tode betrübten
Serenaden ?
Er
konnte elegant sein und strahlend charmant, aber auch laut und derb
wie ein Straßensänger mit einer Drehleier; er war ein Derwisch
der Vokalakrobatik, er beherrschte die scharf geschliffene Rhetorik,
doch ebenso war er als sensibler Melancholiker ein einfühlender
Poet und musikalischer Landschaftsmaler.
"Brel
Infiniment" lässt den Zuhörer tief eintauchen in die
gehetzte Seele eines Jahrhundertkünstlers, der 1978, keine fünfzig
Jahre alt, an Lungenkrebs starb, jedoch ein Vermächtnis hinterließ,
das nachfolgende Kollegen und Publikum noch in Generationen in den
Bann ziehen wird.
©
Michael Frost, 13.10.2003